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Nicht belehren – Aber den Trennungsstrich ziehen: Zum Tod von Gottfried Ensslin

Am Freitag starb Gottfried Enss­lin in Berlin-Schöneberg. Mit ihm verliert der linke Flügel der bundesdeutschen Schwulenbewegung einen prominenten Wortführer und die radikale Linke einen wichtigen Ratgeber und Genossen.

Er wurde am 3. März 1946 in Bartholomä auf der Schwäbischen Alb als eines von sieben Kindern geboren. Sein Vater war ein evangelischer Pfarrer. Gottfried politisierte sich während seines Coming-outs als schwuler Mann und in der Auseinandersetzung mit den politischen Aktivitäten seiner Schwester, der RAF-Mitbegründerin Gudrun Ensslin.

Als er sie im Sommer 1968 im Knast besuchte, wo sie wegen der Kaufhausbrandstiftung in Frankfurt am Main erstmalig inhaftiert war, warnte sie ihn, daß er aufpassen solle, »nicht langweilig« zu werden. Damals befand sich Gottfried, wie er einmal in einem Interview sagte, »noch voll in bürgerlichen Strukturen«. Erst, als er sich ebenfalls »in radikaleren Gruppen« engagierte und auch kurzzeitig inhaftiert wurde, verstand er sich mit Gudrun wieder besser. Sie hat ihm viel bedeutet. 2005 veröffentlichte er zusammen mit seiner Schwester Christiane das Buch »Zieht den Trennungsstrich, jede Minute« mit Briefen von Gudrun Ensslin an ihre Geschwister. »Sie hat mich damals ermuntert, meine Ängste abzulegen, ›die Allmählichkeit abzubrechen und den Sprung zu wagen‹«, erzählte er in einem Interview mit dieser Zeitung.

Der gelernte Buchhändler verstand sich als Teil der undogmatischen 68er-Bewegung. Er arbeitete bis zur Rente bei Karstadt, engagierte sich für den Betriebsrat und war unter anderem Mitglied der legendären »Rote Zelle Schwul«, (RotZSchwul), die in den 1970er Jahren die Forderung nach der Emanzipation der Homosexuellen mit einer marxistischen Gesellschaftsanalyse verband. »RotZSchwul« machte mit Parolen wie »Brüder & Schwestern, warm oder nicht, Kapitalismus bekämpfen ist unsere Pflicht!« gegen den Mief der BRD mobil. Dem CSU-Rechtsaußen Franz Josef Strauß schleuderten sie den Slogan »Lieber ein warmer Bruder als ein kalter Krieger« entgegen.

Ensslin war ein scharfer Kritiker der sich zusehends etablierenden Homobewegung und von deren politischem Rechtsruck. So kritisierte er, daß Schwule einst »aufgrund ihrer subjektiven Unterdrückungserfahrungen für gesellschaftliche Veränderungen kämpften«, während sie heutzutage nur »die ihnen von den Heterosexuellen zur Verfügung gestellten Reservate« verwalten würden. Die sogenannte Homo-Ehe lehnte er als »schlechte Kopie der heterosexuellen Zweierbeziehung« entschieden ab. Die »monogame Zweierbeziehung« erschien ihm als »ein Modell, das zu Lähmung, gegenseitiger Fixierung und Rückzug führt und keinen Raum für andere Lebensentwürfe öffnet«. Er plädierte dafür, die »alternativen Beziehungsmodelle und Wohngemeinschaftsformen der 1970er Jahre wieder verstärkt aufzugreifen und fortzuentwickeln«.

Antisemitismus, soziale Ungerechtigkeit und die ungebrochene Macht der Kirchen waren ihm besonders zuwider. Seine Werte hießen Solidarität und Kollektivität, schon 2006 machte er sich für eine repressionsfreie Grundsicherung von 1500 Euro stark. Ensslin vertrat seine politischen Forderungen in einer ebenso besonnenen wie entschlossenen Form, etwa wenn er der maßgeblich unpolitischen schwullesbischen Partyszenerie die Leviten las, und forderte, daß ein Schwuler immer gegen Kapitalismus und Imperialismus kämpfen müsse. An sich war Gottfried ein Mensch der leisen Töne, gebildet und belesen, und einer, der seine Umgebung nicht belehren wollte.

In den letzten Monaten vor seinem Tod steckte er all seine Kraft in das vom Sachbuchautor Helge Lehmann angestoßene Projekt, die Aufklärung über die genauen Umstände des Todes seiner Schwester Gudrun zu fördern. Sie war in der Nacht zum 18. Oktober 1977 im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses von Stuttgart-Stammheim gestorben, zusammen mit Andreas Baader und Jan-Carl Raspe von der RAF. Die ebenfalls dort inhaftierte Irmgard Möller überlebte diese »Todesnacht von Stammheim«, so auch der Titel des Recherchebuchs von Lehmann aus dem Jahr 2011, schwerverletzt. Sie betont bis heute, daß es sich entgegen der offiziellen Darstellungen von Justiz und etablierter Politik nicht um einen kollektiven Suizid, sondern um Mord gehandelt habe.

Gemeinsam mit Lehmann und mit Unterstützung der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (Die Linke) hatte Enss­lin im Oktober des vergangenen Jahres, am 35. Todestag seiner Schwester, bei der Staatsanwaltschaft beantragt, ein neues Verfahren zur Ermittlung der genauen Todesursachen einzuleiten (jW berichtete). Erwartungsgemäß lehnte die Staatsanwaltschaft den Antrag mit Schreiben von 16. April 2013 ab. »Es bestehen keine zureichenden tatsächlichen Anhaltspunkte, daß die Untersuchungsgefangenen Baader, Ensslin und Raspe sich nicht selbst töteten und die Gefangene Möller sich nicht selbst verletzte. Eine strafrechtlich relevante Beteiligung Dritter ist auch weiterhin nicht ersichtlich«, heißt es in dem jW vorliegenden Schreiben lapidar. Dies, obwohl der Behörde von Gottfried Ensslin und Helge Lehmann 31 Punkte vorgelegt worden waren, offensichtliche Unstimmigkeiten und Fragwürdigkeiten, die neu untersucht werden müßten.

Ensslin wollte sich mit dem staatsanwaltschaftlichen Bescheid nicht abfinden. Unterstützung von ehemaligen RAF-Mitgliedern bzw. von deren Angehörigen erhielt er dabei nicht. Sie reagierten nicht einmal auf entsprechende Kontaktversuche, was ihn sehr verletzt hat. Daß hier die radikale Linke und allen voran die ehemaligen Mitglieder der Stadtguerilla eine politische Chance verspielt haben, ist offensichtlich.

Die ursprüngliche Warnung seiner Schwester war überflüssig. Gottfried Ensslin mag vieles gewesen sein, »langweilig« aber war er nie.