Die TAYAD-Familien, das Idil Kulturzentrum und KünstlerInnen protestierten gegen die Gesetzwidrigkeiten in deutschen Gefängnissen.
Nachdem Sadi Özbolat, der seit einiger Zeit in Deutschland inhaftiert ist bei der Gefängnisleitung ein Saz beantragte, wollte man ihm das Musikinstrument mit entfernten Saiten geben. Die Gefangenenangehörigen und KünstlerInnen protestierten gegen diese Haltung, die Teil der Erniedrigung und des psychologischen Krieges ist, mit den Worten „Es ist eine Beleidigung unserer Kultur und unserer Werte“.
An der Aktion, die am Dienstag, den 22. März um 14:00 Uhr vor dem deutschen Konsulat in Istanbul/Gümüssuyu stattfand, nahmen die TAYAD-Familien, die MitarbeiterInnen des Idil Kulturzentrums, Grup Yorum, Pinar Sag, Mehmet Ekiner, Tayyar Erdem und der Vize-Vorsitzende der Föderation der Alevi Bektasi-Vereine, Mustafa Can teil.
In der Erklärung, die von Grup Yorum-Mitglied Cihan Keskek verlesen wurde hieß es:
“DIE HÄNDE, DIE GESTERN DEN HALS VON ULRIKE MEINHOF GEWÜRGT HABEN, REISSEN HEUTE DIE SAITEN UNSERE BAGLAMA (Laute) HERUNTER.
DAS SKLAVENHALTERISCHE, AUSBEUTERISCHE EUROPA KANN VIELLEICHT DIE SAITEN UNSERER BAGLAMA ABREISSEN, ABER ES KANN UNS NICHT MUNDTOT MACHEN!
Die revolutionären Gefangenen aus der Türkei werden seit Jahren in Isolationshaft gesperrt, bestraft und mit Repression konfrontiert.
Nurhan Erdem, Cengiz Oban, Ünal Kaplan Düzyar, Faruk Ereren und Sadi Özbolat befinden sich unter strenger Isolation.
Eine der neuesten Isolationspraktiken der deutschen Regierung zielt absolut auf die Erniedrigung der anatolischen Kultur.
Die deutsche Regierung bot dem in Deutschland inhaftierten revolutionären Gefangenen Sadi Naci Özbolat eine Baglama an, nachdem die Saiten abmontiert wurden. Das ist eine Erniedrigung, eine Beleidigung.
Jedes Land hat seine eigene Stimme. Und die Baglama verbreitet die Stimme dieses Landes. Über ihre Saiten gleiten die Sorgen, die Sehnsucht, die Liebe und der Kampf Anatoliens in unsere Herzen… Sie ist Teil von uns und wir sind Teil der Saz. Die Saz gehört uns, sie gehört unserem Land. Einmal ist ihre Stimme traurig und erschüttert das Fundament unserer Herzen. Ein andermal dröhnen ihre Saiten, wenn sie den Zeybek-Tanz (aus der ägäischen Region) begleitet.
Wir kennen die Mentalität und den Charakter des Europäischen Weißen Mannes, der Sadi diese Saz ohne Saiten geben wollte. Sie sind Feinde des Temperaments Anatoliens. Sie sind Feinde all derer und all dessen, was nach Anatolien riecht. Ein Anatolien ohne Baglama, eine Saz ohne Saite ist undenkbar. Eine Saz ohne Saiten bedeutet, ihren Charakter als Saz verloren zu haben. Das ist, was sie wollen.
Die Besonderheiten Anatoliens sollen verloren gehen, Assimilation soll sie ersetzen. Sie wollen Sklaven, die sich dem europäischen weißen Mann unterwerfen.
Eine Baglama ohne Saiten kann keinen Ton hervorbringen. Von der Saz können dann weder diese traurigen und durchdringenden, noch diese rauhen Lieder ertönen. Das ist es, was sie wollen.
Die Imperialisten wollen, dass wir schweigen wie eine Saz ohne Saiten. Sie wollen uns schwarzköpfige Ausländer, Barbaren, stinkende Türken, Kurden, Araber nennen… und wir sollen schweigen, wie eine Saz ohne Saiten. Das ist es, was sie wollen. Es ist auch das, was sie nicht schaffen.
Es ist eine Erniedrigung unserer anatolischen Kultur, dass sie Sadi eine Saz ohne Saiten geben wollten. Sie wollen uns erniedrigen, indem sie dreist und arrogant sagen „Wer seid ihr, was ist schon Musik… Das Instrument, dass ihr spielt ist ohnehin primitiv… Dann nehmt und spielt ohne Saiten…“.
…
Es waren unsere Menschen, die die schwersten und mühevollsten Arbeiten in Deutschland verrichtet haben. Nicht umsonst wurde es „bittere Heimat“ genannt. Unsere Saz kennt die in dieser „bitteren Heimat“ vergossenen Tränen, sei kennt die Überwindung, die Sehnsucht und alle Probleme. Die schmutzigen und arroganten Hände des weißen Mannes können die Saiten unserer Saz nicht abreißen.
Wie Marx schon sagte, das kapitalistische System, das überall Blut vergießt, wurde mit dem Blut und Schweiß von Millionen Männern, Frauen und Kindern aufgebaut.
Das ist die Realität des weißen Mannes. Und die Arroganz ist das Geständnis des Verbrechens. In diesen riesigen Kathedralen, Palästen und Monopolen haben sich das Blut und der Schweiß der Völker vermischt.
Mit dieser Niederträchtigkeit will der weiße Mann die Saiten unserer Saz abreißen und wegwerfen. … Diese Saiten sind die Saiten unserer Seele. …
Die Baglama an sich bedeutet, sich der Assimilation und der Erniedrigung zu widersetzen. Denn sie gehört zu Anatolien. Deshalb hassen sie die Saiten unserer Baglama. Schließlich sind 50 Jahre vergangen und wir spielen noch immer Baglama in Deutschland. Die Baglama erinnert sie an den Bankrott ihrer Versuche, uns zu assimilieren. Sie müssen wohl denken „Warum haben sie dieses primitive Instrument noch immer nicht aufgegeben“. Dabei gibt es eine ziemlich klare Antwort darauf: Die Baglama selbst, ihre Lieder, jene die darauf spielen und jene die sie hören riechen Anatolien.
Sadi Özbolat kommt aus Binboga. Er ist verwandt mit Ince Memed, Nachbar von Mahzuni Serif. Sadi liebt die Saz, die Saz liebt auch ihn. Wo auch immer er eine Baglama sieht, muss er sie anfassen. Er greift ihre Saiten an und in Sadis Händen verwandelt sich die Saz in ein rebellierendes Schwert. Er wird zu Ferhad, der die Berge durchlöchert. Genau deshalb, wollen sie auch die Saiten von Sadi’s Saz herunterreißen. … Denn je mehr er uns von unserem Wesen distanzieren kann, umso mehr kann er selbst sein der imperialistische weiße Mann.
Die Saz von Sadi ist eigentlich unser Gemüt, das nach Anatolien riecht. Deshalb wollen sie ihre Saiten abreißen. Diese Saiten verbinden uns mit unseren Wurzeln und mit unserer Zukunft. …
Wer keine Wurzeln hat, an denen er sich festhalten kann, wer keine Zukunft hat, nach der er seine Hände strecken kann, fällt immer tiefer, in die Tiefe der Identitätslosigkeit.
Sie wollen eine Saz ohne Saiten, Menschen ohne Wurzeln, ein Volk ohne Zukunft. Sie wollen, dass wir uns selbst verleugnen, dass wir unseren Wurzeln untreu sind und unsere Zukunft verraten. Denn, nur dann können sie uns entfremden. Denn, nur dann können sie unseren Geist töten und unseren Körper versklaven. Nein, das wird ihnen niemals gelingen. Sowohl unser Schweiß, als auch unser Blut und unsere Tränen riechen nach Anatolien.
Was könnte anderes erwartet werden von einer Mentalität, die Krematorien errichtet hat und von den Händen, die sich um den Hals von Ulrike schlangen. Aber es gibt etwas, was ihre Kraft übersteigt. Sie können die revolutionären Gefangenen aus der Türkei, die sie heute einsperren, nicht von Anatolien wegreißen. Das wird ihnen nicht gelingen, denn sie sind die Hoffnungssaiten dieser Saz.
Und diese Saiten können sie nicht abreißen.
Sadi wird jetzt isoliert, damit keine Stimme aus Anatolien zu ihm vordringen kann. Er befindet sich in der Zelle eines Gefängnisses, in einer deutschen Stadt namens Wöllstein.
Er hat eine Stunde pro Tag Hofgang. Und die ganze Schuld von Sadi besteht darin, die Hoffnungssaite Anatoliens zu sein.
Sie werden diese Saite nicht abreißen können!
NIEDER MIT DEM DEUTSCHEN IMPERIALISMUS!
SCHLUSS MIT DER ISOLATION!
FREIHEIT FÜR DIE REVOLUTIONÄREN GEFANGENEN!”
Die Erklärung wurde im Namen der TAYAD-Familien, des Idil Kulturzentrums, der Band Grup Yorum, der Zeitschrift ‚Tavir im Kultur- und Kunstleben‘, der FOSEM (Fotografie- und FilmmacherInnen) und der Idil Theaterwerkstatt verlesen.
Anschließend ergriff die Sängerin Pinar Sag das Wort und erklärte: „Wir sind Menschen, die versuchen, mit unserer Würde auf den Beinen zu stehen. Die Baglama ist unsere Würde und unser Wert. Diese Maßnahme hat sich gegen unsere Kultur und gegen unsere Werte gerichtet. Wir protestieren dagegen“.
Anschließend richtete sich der Vize-Vorsitzende der Föderation der Alevi Bektasi-Vereine, Mustafa Can an die Gefangenen: „Ihr habt dem Imperialismus die Saite dieser Baglama direkt vor Augen gehalten. Großartik sage ich euch“. Danach betonte er, dass die Baglama im Alevitentum und in der Lehre von Bedreddin als Ehre, als Waffe betrachtet wird und sagte „Die Baglama ist unsere Waffe“.
Zuletzt nahmen die Künstlerinnen ihre Baglama in die Hände und sangen gemeinsam das Lied von Ruhi Su „Mahsul Mahal“.
An der Erklärung nahmen ungefähr 50 Personen teil.
Quelle: http://halkinsesi.tv