»Die revolutionäre Idee wird überleben«
Ein Gespräch mit Jean-Marc Rouillan Im Widerstand: Über den subjektiven Bruch mit dem System, den bewaffneten Kampf und politische Gefangenschaft
Interview: Andrei Doultsev
Jean-Marc Rouillan (67) war Militanter der bewaffneten Gruppe »Action Directe« (AD) in Frankreich, die von 1979 bis 1987 existierte.
Sie kooperierte unter anderem mit der »Roten Armee Fraktion« (RAF) beim Aufbau einer »westeuropäischen antiimperialistischen Guerillafront«. Für die Aktivitäten und Attentate der AD saß Rouillan 24 Jahre im Gefängnis, wurde 2011 entlassen. Er ist Autor mehrerer Bücher.
Kurz bevor Rosa Luxemburg im Januar 1919 von der reaktionären Soldateska ermordet wurde, schrieb sie in der Roten Fahne, dem Zentralorgan der gerade erst gegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund) folgendes: »›Ordnung herrscht in Berlin!‹ Ihr stumpfen Schergen! Eure ›Ordnung‹ ist auf Sand gebaut. Die Revolution wird sich morgen schon ›rasselnd wieder in die Höh‹ richten‹ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!« Sie spricht von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Eines Ihrer Bücher trägt den Titel »Infinitif présent«. Warum?
Rosa konjugiert gewissermaßen das Verb »sein«. Und zu existieren bedeutet, zu handeln, zu kämpfen, seine Autonomie an jedem Ort, in jeder Situation und in jedem Zeitabschnitt zu erlangen.
Mein Buch entstand im Zuge der Qualen meiner Genossin Joëlle Aubron (Aubron war gleichfalls Mitglied bei »Action Direkte«, Anm. jW). Joëlle starb nach fast zwei Jahrzehnten Gefängnis an Krebs, und ich versuche, mir durch ihr Verschwinden die Frage nach der Zeit im Gefängnislabyrinth zu stellen. Hinter den Mauern ist die Zukunft eine Abstraktion, anders ausgedrückt: Phantasie. Die Vergangenheit eine greifbare Gegenwart, in der sich der Kampf der Erinnerung abspielt, die Gegenwart eine Invarianz, die sich zugleich im individuellen und kollektiven Widerstand ausdrückt.
Biographien politischer Gefangener sind die Beweise für diesen Widerstandskampf. Zu sein bedeutet auch, Verantwortung für unser Gedächtnis, die Erinnerung an unseren Kampf und unsere Aktionen zu übernehmen. Der Zweck politischer Haft ist klar: Es ist nämlich notwendig, dass der dissidente Gefangene in die Zwangsjacke der Norm des kapitalistischen Systems gesteckt wird und daher zunächst einmal seine Erinnerungen verrät. Er soll nicht länger die Lücke im System beanspruchen, die er selbst durch sein Handeln geschlagen hat.
Im Rückblick: Hat Ihr Kampf in einer Gruppe wie »Action Directe« politisch Sinn gemacht? Was würden Sie heute anders machen?
Der Kampf von »Action Directe« war wichtig. Er fand zu einer Zeit statt, als wir Zeugen des endgültigen Zusammenbruchs des Fordismus-Modells, der damals vorherrschenden Produktionsweise von normierter Massenfertigung an den Fließbändern wurden. Wir standen am Übergang zum Neoliberalismus – und wir widersetzten uns.
Es war eine Zeit revolutionärer Begeisterung, Kämpfer kamen von überall her nach Paris, um uns zu unterstützen: Italiener, Deutsche, Palästinenser, Türken, Armenier … Und natürlich hatte unser Kampf einen Sinn, er war einer der letzten Versuche, nicht nur die sozialen und freiheitlichen Errungenschaften des antifaschistischen und antikolonialen Kampfes in der Nachkriegsphase zu retten, sondern auch an der Schaffung einer neuen Alternative mitzuwirken.
Heute ist alles ganz anders, wir sind Zeugen der Herrschaftskrise des Neoliberalismus. Vor der Coronapandemie waren die Aufstände weit verbreitet, und heute ist die Entscheidung zwischen Sozialismus und Barbarei noch akuter. Der Kampf wird grausam sein. Und diejenigen, die nicht kämpfen, haben ihn bereits verloren, wie unsere alten Genossen einst schrieben. Die, die heute kämpfen, kämpfen gegen den Aufstieg des Faschismus, gegen den Ausnahmezustand. Glücklicherweise wird vielerorts Widerstand geleistet, unterschiedlicher Art, aber mit dem gleichen Kampfgeist, der auch uns beseelt hatte.
Sie schreiben in Ihrem Buch, dass nach »einem langen Gefängnisaufenthalt Hass entsteht«. Klassenkampf und Hass haben manchmal Gemeinsamkeiten, es sind dennoch unterschiedliche Phänomene. Gibt es heute ein Klassenbewusstsein? Ist es durch Hass und Populismus ersetzt worden?
Vor kurzem hat in Frankreich der Aufstand der »Gelbwesten« den Klassenantagonismus und den Typus des prekären Proletariers wieder in den Vordergrund gerückt. Es war eine echte soziale Bombe, die da explodierte. Die »Gelbwesten« standen nicht nur am Rande eines erfolgreichen Aufstands in Paris im November und Dezember 2018, sondern offenbarten auf diesem Terrain auch den wirtschaftlichen, politischen, kulturellen Kollaps des neoliberalen Modells.
Die globale Bewegung der »Gelbwesten« ist eine Revolte der Enteigneten gegen die Elite, der Abgehängten gegen die Regierenden. Und diese Bewegung sprach, natürlich mit Widersprüchen, vom Klassenkampf. Durch meine Beteiligung daran habe ich viel gelernt. Also im Sinne des Lernens von den Massen, wie die Maoisten zu unserer Zeit zu sagen pflegten.
Die offen zum Ausdruck gebrachten Widersprüche der »Gelbwesten«-Bewegung waren das Erbe sowohl unserer Niederlagen als auch der dreißigjährigen Herrschaft des entpolitisierenden Neoliberalismus. Oder, wie Marx einst sagte, es kommt nicht darauf an, was das Proletariat in einem bestimmten Moment denkt, sondern darauf, was es aufgrund seines Platzes in der kapitalistischen Produktionsweise verpflichtet ist zu tun.
Sie wurden in Toulouse politisiert, der »Hauptstadt« der spanischen Republikaner im Exil. Ihre ersten Aktionen waren gegen das Franco-Regime in Barcelona gerichtet. Logischerweise hätten Sie von Frankreich, einer der Siegermächte der Antihitlerkoalition im Zweiten Weltkrieg, für Ihr antifaschistisches Engagement gewürdigt werden müssen. Aber das war nicht der Fall. Waren Sie für Frankreich als vermeintlicher Anarchist so gefährlich – oder war Frankreich mehr daran interessiert, seine Beziehungen zum Franco-Regime aufrechtzuerhalten?
Jetzt, da die historischen Masken gefallen sind, wissen wir, dass die wahren Herren des franquistischen Spanien der 1970er und 1980er Jahre nicht die Franquisten selbst, sondern die Strippenzieher in Bonn und Paris waren. Die Endphase des Franquismus und der Übergang zur Monarchie war nichts als eine blutige Maskerade – Arbeiter und Widerstandskämpfer wurden weiter ermordet. Selbst ein Putschversuch faschistischer Militärs im Februar 1981 war möglich.
Auf jeden Fall kämpfte ich nicht dafür, von den Imperialisten gewürdigt, sondern dafür, bestimmten Aufgaben und den Anforderungen des Klassenkampfes gerecht zu werden. Und ich möchte hinzufügen, dass die besondere Aufmerksamkeit und die Verurteilungen, mit denen sie mich heute noch überhäufen, einfach zu viel Ehre für mich sind!
Die Aktionen von »Action Directe« und »Rote Armee Fraktion«, RAF, wirkten auf den Normalbürger oft beängstigend und wurden zu Werkzeugen für die Staatspropaganda: Die Tötung des Präsidenten der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverände, Hanns Martin Schleyer, im Herbst 1977 machte den alten Nazi, der zu den faschistischen Kadern der Vernichtungspolitik der Schoah in der Tschechoslowakei gehörte, gewissermaßen zu einem Opfer. Meinen Sie nicht, dass die Methoden der heutigen politischen Aktivisten, zum Beispiel die des russischen Konzeptkünstlers Pjotr Pawlenski, eher geeignet sind, die korrupte Bourgeoisie anzuprangern und zu denunzieren?
Entpolitisierte Menschen haben stets die Gewalt der Armen verurteilt und die Gewalt der Mächtigen ignoriert. Das wissen wir – und wir mussten uns damit auseinandersetzen. Unsere Gewalt war Handarbeit im Vergleich zum industriellen Charakter der Gewalt des Systems. Wir wollten die Herrschenden ins Visier nehmen, als sie zu jener Zeit ganze Völker auslöschten, ob in Vietnam oder anderswo.
Viele Aktivisten aus dem linken Spektrum verurteilten unsere Aktionen oft nur, um die kleinen Protestnischen, die der Staat ihnen zugestand, zu erhalten. Die politische Debatte war verzerrt, das Diktat des Staates war nicht zu übersehen, und diese Aktivisten trafen ihre Wahl ohne den Schatten eines schlechten Gewissens.
Darüber hinaus gibt es keine revolutionäre Aktion ohne eine ihr verwandte kulturelle Aktion. Literatur, Poesie, der künstlerische Akt begleiten die politische Aktion, oder gehen ihr manchmal voraus, aber sie ersetzen sie nicht. Die Feuerlegung von Pjotr Pawlenski an einer Filiale der Banque de France ist ein sehr schöner poetischer und ästhetischer Moment: Leider haben zu wenige Menschen den Künstler unterstützt, als die Richter sich ihn vornahmen.
Was war für Sie der ausschlaggebende Moment, der Auslöser, der Sie dazu veranlasste, das »normale« Leben aufzugeben und den bewaffneten Kampf zu beginnen?
Der Aufstand im Mai 1968 war für mich entscheidend. Und während es in den folgenden Monaten weiterging, machte ich in meiner Politisierung ebenso Fortschritte wie mit meinen Aktionen, vom Straßenprotest über kleine Sabotageakte bis hin zu direkten Angriffen. Alle redeten damals vom bewaffneten Kampf, weltweit. Für mich war er konkret, weil ich, was Sie vorhin angesprochen haben, in der Hauptstadt des Antifranquismus, in Toulouse, lebte und wir weniger als 100 Kilometer von einem der letzten Regimes lebten, das in der Kontinuität der faschistischen Welle der 1930er Jahre stand.
Begreifen Sie sich als »Berufsrevolutionär«?
Ja und nein. Etwas scherzhaft bezeichne ich mich eher als eine Art Ausbilder. Als ich mich aufgrund politischer Verfolgung in Barcelona versteckt hatte, lernte ich viel aus unseren Kämpfen und Fehlern als linke Revolutionäre. Und so sah ich es als meine Aufgabe an, diese Erfahrung in den verschiedenen Bewegungen, denen ich angehörte, weiterzugeben. Bis 1987 habe ich in diesem Geist gekämpft.
Beim Lesen Ihres Buches spürt man Ihren Schmerz, Ihren Kampf, manchmal Ihre Erschöpfung. Es gibt nur wenige ehrliche Bücher wie Ihres. Was ist für Sie Wahrheit?
Die Zeit nach Joëlles Tod war für uns alle ehemaligen Militanten der »Action Directe« hart, aber auch widersprüchlich. Viele zu lebenslanger Haft verurteilte politische Gefangenen kamen anschließend schnell frei. Ich glaube nicht, dass mein Buch traurig ist, im Gegenteil, menschlich gesehen waren wir »trotz allem« stolz darauf, diesen Weg gegangen und unserer Verantwortung gerecht geworden zu sein. Dieses Buch ist politisch, aber es ist kein politischer Text. Es umfasst viele Bereiche und auch das Private.
Wir haben sozusagen unsere Wahrheiten, die zuweilen grausam sind. Im Gegensatz zu anderen Gruppen wussten wir, wie man verliert. Indem wir politische Verantwortung übernahmen, Widerstand organisierten und die Erinnerung nicht sterben ließen, ließen wir die Tür für neue Kämpfe offen. Heute vergeht kein Monat, in dem die bürgerlichen Zeitungen in Frankreich nicht mit uns als »politischem Gespenst« versuchen, Angst zu verbreiten.
Meinen Sie, dass es Linken in einigen Jahren wieder gelingen wird, den öffentlichen Diskurs zu dominieren?
Die dominierende öffentliche Debatte ist nicht das Problem. Gerade zu Rosa Luxemburgs Zeiten war die Revolution an der Tagesordnung, und am Ende war es der Faschismus, der dank der Bourgeoisie triumphierte. Das müssen wir auf jeden Fall bekämpfen, sonst haben wir erneut Faschismus und einen neuen Krieg.
Was mich also beunruhigt, sind nicht so sehr die Reden, sondern eher das Verschwinden des konkreten Experiments. Der neoliberale Antiterrorismus und seine Kollaborateure haben unsere praktischen Erfahrungen, die wir in den vorangegangenen Phasen des antiimperialistischen und antikolonialen Kampfes gesammelt haben, fast bis auf die Wurzel zerstört. Das Volk und das Proletariat sind heute völlig entwaffnet – auf allen Ebenen. Ein Wettlauf gegen die Zeit hat längst begonnen …
Woher haben Sie die Kraft geschöpft, Ihre Ideale im Gefängnis nicht aufzugeben? Gab es überhaupt die Versuchung, diese aufzugeben?
Wir waren eine Organisation, ein Akteur, der ideologisch nicht fehlerfrei war, wir waren widersprüchlich in unseren eigenen Reihen, wir hatten anarchistische Genossen, aber auch Marxisten-Leninisten der alten Schule, so dass unser Handeln mehr auf Zweifel als auf ideologischer Verständigung beruhte. Und ich denke, das ist der Grund für die geringe Zahl der Unzufriedenen und Reuigen in unseren Reihen.
Ich habe das Glück gehabt, mich nie zu fragen, ob ich aufgeben und mich der politischen Verantwortung für mein und unser Handeln entziehen sollte. Ich glaube, das bin ich auch den alten spanischen Revolutionären schuldig, die mich ausgebildet und erzogen haben. Sie wussten mir einzuprägen, dass die Teilnahme an revolutionären Handlungen nie folgenlos bleibt. Ich war darauf vorbereitet. Dank ihnen …
Ihr Buch ist auch poetisch, Sie zitieren große Schriftsteller und Dichter des sozialen und revolutionären Denkens des 20. Jahrhunderts. Ist Literatur für Sie eine Methode, das Alltägliche zu überwinden und einfache und ewige Ideen – Revolution, soziale Gerechtigkeit, Freundschaft – außerhalb des medialen Opportunismus zu sehen? Ist Literatur gefährlich für den neoliberalen Diskurs?
Ich habe nie um des Schreibens willen geschrieben. Inspiriert von der proletarischen Literatur der 1920er Jahre schreibe ich immer noch, um von einer Situation der Ausbeutung und Unterdrückung Zeugnis abzulegen. Und um den Inhalt unseres Widerstandes, unseres Kampfes zu überliefern. Im Gegensatz zu rein politischen Texten erlaubt uns Literatur, die gesamte Situation und sämtliche Beziehungen zu erfassen. Sie verortet unser Engagement und beschreibt die extreme Freude, die wir im Kampf erfahren haben. Meine Literatur trägt noch immer die Spuren der Freiheiten, die wir vor dem Neoliberalismus erobert und bewahrt hatten.
Befürchten Sie, dass die neoliberale Konterrevolution, die seit den 1980er Jahren die Welt beherrscht, in einer faschistischen Diktatur ihr logisches Ende finden wird?
Die Logik des Systems ist einzig der Profit. Wir leben unter einem kapitalistischen Regime. Solange niemand Widerstand leistet, wird die imperialistische Bourgeoisie den Faschismus nicht brauchen. Sie wird die vorhandene Unterdrückung im Zeichen eines mehr oder weniger getarnten Autoritarismus intensivieren. Aber: In einzelnen Elementen besteht das faschistische Regime bereits. Wir müssen zum Beispiel die faschistischen Tendenzen einer Staatsführung erkennen, wie sie sich schon bei der »Aufrechterhaltung der Ordnung« in den Arbeitervierteln in Frankreich darstellen.
Der künftige Faschismus wird keiner von »Salonfaschisten« sein. Er wird sich am ehesten darin zeigen, die Ausnahmezustände unter verschiedenen Vorwänden sozusagen zu vervielfältigen – bis hin zum kriegerischen Interventionismus in den Ländern des Trikonts, des globalen Südens also.
Der Faschismus war und bleibt die Waffe der Bourgeoisie. Im Zeitalter des verfaulenden Neoliberalismus ist die Textur des Regierens bereits Faschismus. Sie ist der konkrete Ausdruck der extremen Konzentration und Zentralisierung des Kapitals und seiner Verwalter.
Wird die revolutionäre Idee im 21. Jahrhundert, das im Zeichen von totaler Beobachtung und Kontrolle gestartet ist, überleben?
Die revolutionäre Idee überlebt. Sie überlebt in all den Aufständen gegen die bürgerliche Ordnung, in der Utopie der radikalen Umstürze. Solange man wirklichen Widerstand leistet, solange man das Mögliche und die Norm um jeden Preis überschreitet, solange das Bewusstsein für Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und für die geostrategische Komplexität sich weiterentwickelt …, solange ist die revolutionäre Idee quicklebendig.
junge Welt 18.7.2020
https://www.jungewelt.de/artikel/382498.revolution-und-poesie-die-revolutionäre-idee-wird-überleben.html