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§129 PROZESSE, JUSTIZ 50. Tag im Terror-Börek Prozess

Der Düsseldorfer 129b-Prozess, in dem unserer Genossin Latife die Produktion von Terror-Böreks, der Ankauf von Vitamin B12-Vitaminen und die Teilnahme an angemeldeten Demonstrationen vorgeworfen wird, steht vor einem denkwürdigen Jubiläum. Am Donnerstag, den 15. Dezember, geht er in seinen 50. Prozesstag. Im Juni 2015 begonnen, sollte das Verfahren wegen angeblicher Mitgliedchaft in der türkischen DHKP-C eigentlich im Oktober des gleichen Jahres zuende gehen, doch aus den vorgesehenen vier sind mittlerweile 18 Monate Verfahrensdauer geworden. 18 lange Monate, in denen der Staatsschutzsenat am Düsseldorfer OLG nichts unversucht ließ, unserer Freundin eine Terrorunterstützung nachzuweisen.

Doch keine Auswertung von Bewegungs- und Überwachungsdaten führte zu konkreten strafrechtlich relevanten Vorwürfen. Das Gericht wurde immer wieder auf eine allgemeine Beweiserhebung zum Charakter der DHKP-C zurückgeworfen, die sich ihrerseits auf höchst fragwürdige Ermittlungen stützt. Wochen wurden damit zugebracht, BKA- und LKA-Beamte zu Vorgängen zu befragen, die weder mit dem in der Anklage definierten Zeitraum noch mit Latifes Arbeit als Vorsitzende der Anatolischen Föderation zu tun hatten.

Das war für Latife und auch für uns als BeobachterInnen manchmal nur schwer auszuhalten. Angesichts der aktuellen Meldungen aus der Türkei sind die Terrorvorwürfe gegen unsere Freundin an Zynismus kaum zu überbieten. Will der Staatsschutzsenat unter dem Vorsitzenden Richter Schreiber tatsächlich die zivile politische Arbeit einer seit dreissig Jahren in Deutschland lebenden Migrantin auf einer Ebene mit Kriegshandlungen in der Türkei abhandeln? Hält das Gericht bei Festivals angebotene Snacks und drei Packungen legal erworbener Vitamin B12-Präparate wirklich für Terror?

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BeobachterInnen des Verfahrens wandeln angesichts der seit Latifes Verhaftung 2013 aufrechterhaltenen Drohung mit einer mehrjährigen Knaststrafe beständig zwischen ungläubigem Lachen und unbändigem Zorn. Manches hat uns schlicht fassungslos gemacht. Zu absurd, zu irreal sind einige der inzwischen 49. Prozesstage verlaufen. Etwa, wenn tagelang vorgetragene Sprachgutachten zur Telekommunikationsüberwachung nur Hinweise zu bei Konzerten verkauftem Obst, für die Vorbereitung von Teigwaren oder für verspätet bei einer Veranstaltung eintreffende Kuchen belegten.

Bei aller Fassungslosigkeit über die Willkür der Vorwürfe haben wir dennoch nie vergessen, dass das Verfahren auf mehreren Ebenen spielt, so wie auch Latife nicht rein zufällig auf der Anklagebank des OLG gelandet ist. Es handelt sich um ein politisches Verfahren, dass eine in deutscher und türkischer Politik engagierte Genossin mundtot machen soll. Als vielfach in hiesige Strukturen eingebundene Aktivistin war sie seit Jahren deutschen und türkischen Sicherheitsbehörden ein Ärgernis. Ihre langjährige Soli-Arbeit für angeklagte MigrantInnen, z.B. für den letztendlich von einer Mordanklage freigesprochenen Faruk Ereren und ihre Arbeit für migrantische Selbstorganisation prädestinierten sie dafür, dass an ihr ein Exempel statuiert wird.

Auch ihre sehr frühzeitigen Hinweise auf rechten Terror bei den erst später dem NSU zugeordneten Morden und die Organsation spektrenübergreifender regionaler Proteste in Wuppertal und Umgebung während des türkischen Gezi-Aufstandes störten Staatsschutz und Polizei. Nach ihrer Verhaftung musste sich Latife hämische Bemerkungen anhören, die an den unseligen Horst Herold erinnerten („Wir kriegen sie alle!“). Einschüchterung funktioniert und die Kriminalisierung einzelner kann ganze Strukturen zerstören. Das ist eine leider oft gemachte Erfahrung.

Wenn es um Kontrolle und um Verhinderung migrantischer Selbstorganisation geht, ziehen deutsche und türkische Behörden seit jeher an einem Strang, sofern es sich um Linke mit türkischen, alevitischen und kurdischen Wurzeln handelt. Auch Latife wurde nur kurze Zeit nach einem Treffen von BKA und türkischem Geheimdienst, auf dem Höhepunkt der Gezi-Proteste in der Türkei verhaftet. Doch wie weit die Kollaboration mit einem Staat tatsächlich geht, von dem selbst der OLG-Senat sagt, es gäbe systematische Folter, Verfolgung und Vertreibung von ethnischen, kulturellen und religiösen Minderheiten, hätten wir uns zu Beginn des Verfahrens nicht vorstellen können. Was wir erfahren mussten, reichte von unkritischer Verwendung erfolterter Aussagen bis zu einem wahrscheinlichen Doppelagenten des BND und des türkischen Geheimdienstes MIT als V-Mann.

Das Verfahren gegen Latife begann zu einem Zeitpunkt, an dem die im kurdischen Teil der Türkei fest verankert HDP einen historischen Einzug ins türkische Parlament schaffte. Kurz darauf kam es zum mörderischen Anschlag auf junge AktivistInnen in Suruç. Danach begann der neue Krieg der türkischen Regierung gegen die kurdische Bevölkerung. Mittlerweile befinden sich viele der damals gewählten HDP-Abgeordneten in Haft, wie zigtausende andere Menschen auch: Oppositionelle, gewählte MandatsträgerInnen, zivilgesellschaftliche Akteure, Journalisten und AnwältInnen. Im Verlauf des Prozesses wurde die Türkei wieder zu jener offenen Diktatur, vor der Latifes alevitische Eltern vor drei Jahrzehnten aus Kurdistan nach Deutschland geflüchtet waren. Hand in Hand mit den aktuellen Machthabern in der Türkei wird Latife nun hier der Prozess gemacht.

Zuletzt wurden auch immer mehr Einzelheiten zur Tätigkeit des türkischen Geheimdienstes in Deutschland bekannt, für den bis zu 6.000 Agenten die türkische Regierung zum Geschehen innerhalb der türkischstämmigen Community Deutschlands unterrichten sollen. Die Vorstellung, dass in Deutschland politisch aktive Menschen wie Latife nichts unternehmen können, ohne dass das MIT darüber informiert ist, ist uns heute nicht mehr fremd. Es ist davon auszugehen, dass jede Äußerung im Zusammenhang mit der Türkei, jeder Kontakt und jede Aktivität ohne Zeitverzug nach Ankara gemeldet wird. Die Kontinuität der Geschichte ist gespenstisch, reicht die geduldete türkische Repression in Deutschland doch von den Schergen Evrens in den 1980ern bis zum heutigen AKP-Regime Erdogans. Eine Änderung ist nicht in Sicht.

Auf die Anklage und die Verhandlung gegen unsere Genossin hatte all das nämlich keinen Einfluss. Gutachten zur Rechtmäßigkeit der § 129b-Verfahren oder die Forderung nach einer Überprüfung der politischen Weisung aus dem Bundesjustizministerium, die bis heute Grundlage des Prozesses ist, sowie mehrere Einstellungsanträge wurden ebenso zurückgewiesen, wie die Befragung von Zeugen und Zeuginnen, die sich zur tatsächlichen Arbeit Latifes im Rahmen der Anatolischen Föderation äußern sollten. Es sieht so aus, dass die deutsche Justiz genauso wie der türkische Staat unbedingt mithilfe wirrer Konstrukte zu Verurteilungen kommen möchte. Die Qualität der Vorwürfe, die angeblich Terrorverdächtigen gemacht werden, ist hier wie dort nahezu identisch und abenteuerlich.

Doch „die Hoffnung stirbt zuletzt“ – ob sich unsere Hoffnungen auf einen guten Ausgang für Latife am Ende erfüllen, werden die nächsten Wochen zeigen. Noch immer besteht die Chance, durch öffentliche Aufmerksamkeit dafür zu sorgen, dass sich der 5. Senat am OLG in Düsseldorf nicht zum Büttel türkischer Sicherheitspolitik und außenpolitischer Interessen der BRD machen lässt. Wir werden das Verfahren auch in diesen letzten Wochen bis zum Urteil solidarisch begleiten. Mit Veranstaltungen und einer Neuauflage des „Prozessberichtes“ werden wir versuchen, die Aufmerksamkeit nochmal zu verstärken. Eine ausführliche Aufarbeitung unserer Beobachtungen und eine Dokumentation des Prozesses harren derweil noch einer Bearbeitung. Zunächst haben wir gemeinsam mit Latifes Anwälten zum 50. Prozesstag eine neue Pressemitteilung veröffentlicht, deren Weiterverbreitung Latife einstweilen helfen würde.

Die nächsten Termine:

Termine sind inzwischen bis Ende Januar 2017 benannt.

Donnerstag, 15.12., 10:00 Uhr – 50. Tag, Hauptgebäude Saal A 01
Donnerstag, 22.12., 10:00 Uhr – 51. Tag, Hauptgebäude Saal A 01
Mittwoch, 11.01., 14:00 Uhr – 52. Tag, Nebengebäude, Saal 2
Donnerstag, 19.01., 10:00 Uhr – 53. Tag, Hauptgebäude Saal A 01
Das Hauptgebäude befindet sich an der Cecilienallee. (Karte)
Das Nebengebäude liegt am Kapellweg. (Karte)
Erklärung von Anwälten und Unterstützern
Latife Cenan-Adigüzel droht zum Opfer deutscher Staatsraison zu werden!

Das „Terrorismusverfahren“ gegen unsere Genossin, Freundin, Nachbarin und Mandantin Latife Cenan-Adigüzel läuft nun seit Juni 2015. Am morgigen Donnerstag, den 15.12., findet vor dem 5. Strafsenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf der mittlerweile 50. Verhandlungstag statt. Der Prozess soll offenbar nun zu einem schnellen Ende geführt werden. Dabei droht die zweifache Mutter aus Wuppertal zum Opfer deutscher Staatsraison zu werden.

Prozesse wegen angeblicher Mitgliedschaft in einer „ausländischen terroristischen Vereinigung“ nach § 129b werden derzeit öffentlich vor allem dann wahrgenommen, wenn sie gegen vermeintliche Unterstützer des „Islamischen Staats“ geführt werden. Dabei werden immer wieder auch Anklagen gegen türkisch- und kurdischstämmige Linke eröffnet, die, wie Latife Cenan-Adigüzel, teilweise schon jahrzehntelang in der Bundesrepublik leben und sich hier politisch engagieren. Die Verfahren, die sich fast immer auf Ergebnisse der Kooperation deutscher und türkischer Geheimdienste und Sicherheitskräfte stützen, sind spätestens aufgrund der jüngsten Entwicklungen in der Türkei ein Skandal.

Wir fordern ein sofortiges Ende der § 129b Verfahren gegen türkische und kurdische Linke in Deutschland. Nicht nur wegen der unhaltbaren Kooperation mit dem türkischen Repressionsapparat. Sondern auch, weil speziell mit dem Prozess in Düsseldorf gegen unsere Freundin eine neue Qualität der Anklagen nach § 129 a/ b durchgesetzt werden soll: Den Behörden würde künftig einen Freibrief für beliebige Anklagen gegen unliebsame migrantische Vereine, aber auch gegen linke deutsche Strukturen ausgestellt. Die mittlerweile weitgehend abgeschlossene Beweisaufnahme des Staatsschutzsenats hat in über anderthalb Jahren keine einzige konkrete strafbare Handlung unserer Freundin belegt – eine Verurteilung droht Latife lediglich aufgrund ihrer Tätigkeit als Vorsitzende der „Anatolischen Föderation“, eines legalen Vereines.

Gleichwohl soll der Prozess nun offenbar zu einem schnellen Ende gebracht werden. Der 5. Strafsenat des OLG hat bisher ausnahmslos alle Beweisanträge der Verteidigung, mit denen sowohl individuelle Vorwürfe gegen unsere Freundin entkräftet als auch die politischen Grundlagen des Prozesses hinterfragt werden sollten, zurückgewiesen.

Zur Begründung verweist er dabei zum einen auf seine Inkompetenz, wenn es um die beantragte Überprüfung der von Justizminister Maas erteilten Verfolgungsermächtigung geht; dem Senat stünde eine Meinung zu den außenpolitischen Gründen der Strafverfolgung nicht zu. Zum anderen beansprucht er wiederum eine ausreichende Kompetenz zur Beurteilung offener völkerrechtlicher Fragen – beispielsweise, wenn es darum geht, ein Gutachten eines Völkerrechtlers zu den § 129b-Verfahren einzuholen.

Auch Anträge zur Ladung von Zeuginnen und Zeugen, die zur tatsächlichen Arbeit des betroffenen Vereins „Anatolische Föderation“ oder zur tatsächlichen Verwendung von B12-Vitaminpräparaten aussagen sollten, wurden abgelehnt. Letztere sollten nach Auffassung des Senats für einen Hungerstreik politischer Gefangener in der Türkei bestimmt gewesen sein – ein solcher fand zum fraglichen Zeitpunkt jedoch gar nicht statt.

Ebenso abgelehnt wurden Anträge zur Einholung von Gutachten, die das Anklage-Konstrukt einer illegalen Intention und Arbeit des Vereins überprüfen sollten. Empörend ist vor allem die Weigerung, die Umstände zu überprüfen, die 2004 zur Beschlagnahme von Dateien führten, welche bis heute als Kernstück einer so genannten Strukturakte Beweismittel in allen Verfahren zur DHKP-C in Deutschland sind. Eine Überprüfung der damaligen Umstände würde nach Auffassung der Anwälte ein Verwertungsverbot begründen: Vieles deutet daraufhin, dass erfolterte Aussagen Ausgangspunkt der damaligen Abhör- und Beschlagnahmeaktionen waren, und dass notwendige forensische Standards im Umgang mit digitalen Beweismitteln damals nicht eingehalten wurden.

BeobachterInnen des Verfahrens mussten daher den Eindruck gewinnen, dass es jetzt vor allem um eine schnelle Erledigung des Prozesses gehen soll. Obwohl die dramatischen Entwicklungen in der Türkei auch die Arbeit der Verteidigung in einem deutschen Verfahren erschweren (immerhin geht es auch um die Ladung möglicher Entlastungszeugen aus der Türkei), erhöht der Senat den Druck und forderte am 17.11. eine Beschleunigung der Antragstellung. Dass das nach Wochen eines eher schleppenden Prozessverlaufs zeitgleich zum Türkeibesuch von Außenminister Steinmeier geschah, ist kaum ein Zufall. Dort versicherte er seinem Amtskollegen, dem „lieben Mevlüt“ Çavuşoğlu, dass „terroristische Aktivitäten (der PKK) nach dem Buchstaben des Gesetzes“ verfolgt würden, nachdem dieser behauptet hatte, in Deutschland liefen tausende Terroristen frei herum.

Wir befürchten, dass der Prozess in Düsseldorf alleine schon aus Gründen der Gesichtswahrung Berlins mit einem Schuldspruch enden soll. Denn gemeint waren natürlich auch jene Verfahren, die sich gegen in Deutschland lebende Menschen richten, denen die Mitgliedschaft in linken Organisationen wie der DHKP-C (oder im Münchner Prozess der TKPM/ML) vorgeworfen wird. Steinmeier meinte also auch Latife Cenan-Adigüzel, deren Verfolgung damit endgültig zu einem Fall deutscher Staatsraison geworden ist. Das stellt einen „Kniefall vor einem faschistischen Regime“ dar, wie es Rechtsanwalt Roland Meister ausdrückte. So ist auch die Haltung des Senats zu verstehen, eine Überprüfung der Verfahrensgrundlagen um jeden Preis zu vermeiden.

Eine über die deutsch-türkische Kooperation zunehmend besorgte Öffentlichkeit soll möglichst wenig zu den Anklagekonstruktionen erfahren, die an staatlicher Willkür den türkischen Terrorverfahren gegen Abgeordnete, Bürgermeisterinnen, Journalisten oder Anwältinnen in nichts nachstehen.

Die Taktik, ohne größere öffentliche Aufmerksamkeit hier lebende Menschen der Staatsraison und fragwürdigen Flüchtlingsabkommen zu opfern, darf nicht aufgehen: Wir fordern alle MedienvertreterInnen und alle solidarischen Menschen auf, das Verfahren gegen Latife Cenan-Adigüzel und die anderen anhängigen § 129b-Prozesse gegen migrantische Strukturen zu verfolgen und darüber zu berichten, bevor die Anwendbarkeit der §§ 129a und b in bisher nicht gekannter Weise ausgedehnt wird. Die Zusammenarbeit Deutschlands mit dem türkischen Repressionsapparat muss sofort beendet werden!

Remscheid, Essen, Wuppertal, 14.12.2016

Yener Sözen, Rechtsanwalt
Roland Meister, Rechtsanwalt
Freunde und Freundinnen Latifes

https://prozessbericht.noblogs.org/post/2016/12/14/50-tag-im-terror-boerek-prozess/

https://prozessbericht.noblogs.org/post/2016/12/14/gemeinsame-pressemitteilung/