Nach dem Angriff gegen das World Trade Center und gegen das Pentagon in September 2001 entfachte die US-Regierung unter Präsident George W. Bush ihren „Krieg gegen den Terrorismus“. Der Krieg nach außen im Irak und Afghanistan wurde vom Krieg nach innen begleitet.
Direkt nach dem 11. September wurden politische Gefangene in Isolationshaft verlegt. Tausende arabische und muslimische Menschen, vor allem Männer, wurden willkürlich festgenommen, verhört, misshandelt und nach langer Inhaftierung, ohne jegliche Möglichkeit sich rechtlich zu verteidigen, abgeschoben. Migranten, die teilweise lange Jahre in den USA gelebt hatten, wurden wegen der geringsten Verstöße gegen die Einwanderungsbestimmungen deportiert.
Knapp sechs Wochen nach dem Angriff wurde das unter der Leitung von Justizminister John Ashcroft entworfene „PATRIOT Act“, dass gravierende Einschränkungen von lange erkämpften Bürgerrechten und eine Ausdehnung der Terrorismusbegriffs enthielt, innerhalb von drei Tagen vom Repräsentantenhaus und Senat verabschiedet und von Bush unterschrieben.
Ashcroft wurde zum öffentlichen Gesicht des „Kriegs gegen den Terrorismus“. Er unterließ keine Möglichkeit über die Notwendigkeit vom „PATRIOT Act“ zu reden und „Erfolge“ zu verkünden. Am 9. April 2002 trat Ashcroft vor nationalen und internationalen Fernsehkameras, um den neuesten „Erfolg“ zu verkünden, die Verhaftung der linken Anwältin Lynne Stewart wegen u.a. „materieller Unterstützung des Terrorismus“ und vorsetzlicher Täuschung der US-Regierung [1]. Am gleichen Abend war er als Fernsehgast in den David Letterman Talkshow eingeladen. Anstatt, wie üblich bei solchen Shows, über die allgemeine Situation oder sich und seine Karriere oder Ähnliches zu reden, redete er ausgiebig über die Verhaftung von Lynne Stewart.
Ashcrofts Auftritt war eine klare Botschaft gemäß Bushs Drohung an den Rest der Welt: „Entweder ihr seid mit uns oder gegen uns“ an Anwälte, die bereit sind, Menschen, die wegen Terrorismus oder andere politische Delikte angeklagt sind, zu verteidigen. An Stewart sollte ein Exemplar statuiert werden.
Lynne Stewart war keine Unbekannte. Während einer drei Jahrzehnte umspannenden Laufbahn verteidigte sie Mitglieder linker Organisationen wie der Black Panther Party, Black Liberation Front, Ohio 7 und Weather Underground, aber auch viele mittellose Klienten und Mafiamitglieder. Ihre erfolgreiche Verteidigung von Larry Davis, der wegen versuchten Mordes an sechs Polizisten beschuldigt wurde und ihre Aussage, Osama bin Laden zu verteidigen, wenn es möglich wäre, machte sie bei der Justiz nicht gerade beliebt.
Die Anklage gegen Stewart beruht auf Ereignissen vor dem 11. September. Stewart war Mitte der 1990er Jahre Pflichtverteidigerin des blinden ägyptischen muslimischen Predigers Omar Abdel Rahman. Rahman, einer der führenden Gegner des von den USA gestützten Mukarak Regimes – nur Israel bekommt mehr Geld – verbüßt eine lebenslange Haftstrafe wegen staatsgefährdender Verschwörung im Zusammenhang mit angeblichen Sprengstoffanschlägen gegen New Yorker Bauwerke. Stewart blieb auch nach Rahmans Verurteilung weiterhin seine Anwältin.
1998 verhängt das Justizministerium sog. „administrative Sondernahmen“ (SAM) gegen Rahman, die ihm jeglichen Kontakt mit der Außenwelt verbot, außer Anwaltsbesuchen und einem wöchentlichen fünfzehnminütigen Telefonat mit seiner Ehefrau. Seine Anwälte mußten schriftlich versichern, dass sie und ihre Angestellten und Beauftragten diese Bedingungen einhalten werden, sonst durften sie ihn nicht besuchen.
Stewart wurde vorgeworfen gegen diese SAM-Bestimmungen verstoßen zu haben, indem sie Nachrichten zwischen Rahman und der Islamischen Gruppe (IG), die für einen islamistischen Staat in Ägypten kämpft, weitergeleitet zu haben. Die Vorwürfe basierten vorwiegend auf Abhörprotokollen von angeblich verfassungsmäßig geschützten Gesprächen zwischen Anwälten und Mandanten. Stewart soll während eines Besuchs laut auf Englisch gesprochen haben, um ein Gespräch zwischen Rahman und dem Rechtsgehilfen bezüglich der Fortsetzung eines Waffenstillstandes zu übertönen und seine Entscheidung die „Feuerpause“ nicht länger zu unterstützen, an die Medien weitergegeben zu haben.
Stewart stellte einen Antrag auf Verfahreneinstellung. Der ehemalige Justizminister und Mitverteidiger im Rahman Fall Ramsey Clark erklärte, er habe mehrmals gegen die SAM-Bestimmungen verstoßen, die Justizbehörde aber habe sich „niemals beschwert“, geschweige denn Anklage erhoben. Clart las Rahman Zeitungsberichte vor und gab, wie Stewart, eine Erklärung an die Medien weiter. Clark wurde nie belangt, höchstwahrscheinlich weil die Erklärung Rahmans ursprünglich Unterstützung für eine Feuerpause signalisierte.
In August 2003 lehnte Bundesdistriktsrichter John Koeltl den Antrag Stewarts auf Einstellung des Verfahrens ab, strich aber die Vorwürfe bezüglich des Terrorismus aus der Anklageschrift. Knapp drei Monate später kündigte die Staatsanwaltschaft eine Ausdehnung der Anklage auf u.a. Verschwörung zur materiellen Unterstützung einer Verschwörung, Menschen in einem fremden Land zu töten und entführen.
Die Anklageschrift machte deutlich wie sehr das Mandanten/Anwalt-Gespräch nicht nur abgehört, sondern auch videoberwacht wurde. Mindestens zweieinhalb Jahre lang hörte die Justiz jedes Wort mit.
Der Prozess gegen Lynne Stewart fing Anfang Juli 2004 an und dauerte bis Februar 2005. Die Staatsanwaltschaft versuchte, Stewart als Terrorismusbefürworterin darzustellen. Es wurden massenhaft Zeitungsausschnitte über Aktivitäten und Anschläge radikaler islamischer Gruppierungen, die auch aus Stewarts Büro beschlagnahmt wurden, und Videoaufnahmen von Osama bin Laden, der seine Unterstützung für Rahman verkündet hatte, gezeigt. Ein Großteil der Zeitungsausschnitte hat Stewart von der Staatsanwaltschaft bekommen. Sie waren angebliche Beweismittel im Rahman Verfahren und mussten an die Verteidigung ausgeliefert werden. „Der Fall reicht in das Jahr 2000 zurück“, sagte Lynne Stewart, „und es geht um eine Presseerklärung, eine Presseerklärung, die keine Auswirkung hat“. Denn die IG setzte die „Feuerpause“ fort und stellte sogar 2003 alle bewaffnete Aktionen ein.
Eine Geschworenenjurie befand sie in allen Punkten für schuldig. Wegen einer Brustkrebserkrankung bei Stewart erfolgte die Strafmaßfestsetzung erst im Oktober 2006. Anstatt die von der Staatsanwaltschaft geforderten 15 bis 30 Jahre verurteilte Richter Koeltl Stewart zu einer Haftstrafe von 28 Monaten. Die Staatsanwaltschaft kündigte sofort an, Berufung einzulegen.
Im November 2009 erklärte ein Berufungsgericht das Strafmaß für zu niedrig. Berufungsrichter John Walker, ein Cousin des damaligen Präsidenten Bush, hielt es sogar für „unglaublich niedrig“. Richter Koeltl wurde angewiesen das Strafmaß neu festzusetzen und zu überprüfen, ob Stewart nicht Meineid begangen hätte.
Am 15. Juli 2010 gab Richter Koeltl seine Entscheidung bekannt. Zuerst sprach er eine halbe Stunde lang über die ca. 400 Unterstützungsbriefe, die er bekommen hatte, über die mittlerweile siebzigjährige Stewart und ihren Jahrzehnte langen Dienst an den Armen und Verstoßenen der Gesellschaft und über ihren verschlechterten Gesundheitszustand, insbesondere ihr Krebsleiden. Dann erklärte er, Stewart hat Meineid begangen und keine Reue gezeigt – In Interviews nach ihrer Verurteilung zu 28 Monaten 2006 hat Stewart erleichtert erklärt, sie sitze die Zeit spielend ab bzw. sie sei sich keines Unrechts bewusst und würde es wieder machen. Dann verurteilte er sie ganz trocken zu einer Haftstrafe von zehn Jahren, fast das Vierfache der ursprünglichen Strafe.
Als Stewarts Anwältin fragte, weshalb, erwiderte er, Anweisung von oben. Eine Todesstrafe für eine Siebzigjährige nannte es Stewarts Ehemann.
Wie vor ca. sechzig Jahren als Ethel und Julius Rosenberg im gleichen Gerichtssaal zum Tode verurteilt wurden, ein Exempel im „Krieg gegen den Kommunismus“ statuiert wurde, wird nun das Gleiche mit Lynne Stewart im „Krieg gegen den Terrorismus“ gemacht.
[1] Mohamed Yousry, Ahmed Abdel Sattar und Yassir Al-Sirri wurden mit Stewart zusammen verhaftet. Die Anklage gegen Al-Siiri wurden später fallengelassen. Yousry, Stewarts Dolmetscher, wurde zu 20 Monaten verurteilt und Sattar zu 24 Jahren.