Zum Knastsystem Russlands und dem Fall Chimki

Staatliche Repression und Knast sind in Russland selbstverständlicher und gegenwärtiger Alltag, auch und vor allem für politische Zusammenhänge, die herrschenden Interessen nicht passen. „Bis 2001 war Russland die Nummer 1 in Sachen Gefangene, seitdem wurde es nur von den USA überholt. Gefängnisse verdeutlichen die allgemeine Gangart der Gesellschaft. Während die Machthaber in Russland Kontrollen ausbauen und die Regierung immer repressiver vorgeht, wächst die Anzahl der Gefangenen. Zur Zeit beträgt die gefangene Bevölkerung in Russland 700.000 Menschen. Die ökonomische Ausbeutung der Gefangenen ist wenig entwickelt, im Gegenteil mangelt es an sinnvoller Beschäftigung – somit ist der wachsende Anteil der Gefangenen weniger ökonomisch durch das Kapital als vielmehr durch Druck vom Staat zu erklären. („On prison resistance in Russia“, Artikel aus der „Abolishing the borders from below“ vom Oktober 2008)
Nach der Zeit der Perestroika ging die Zuständigkeit für die Knäste vom Innen- aufs Justizministerium über. Dadurch gab es zunächst verhältnismäßig wenig Folter und Übergriffe, aber auch weniger Geld für den Betrieb der Knäste, so dass die Gefangenen auf Päckchen und Spenden von Angehörigen zum Überleben angewiesen sind, da sie sonst schlichtweg verhungern. Auch die medizinische Versorgung ist minimal, so dass in russischen Knästen (besonders in den zumeist gnadenlos überbelegten Untersuchungsgefängnissen) Krankheiten wie Aids, Tuberkulose und sogar die Diphtherie, die als ausgestorben galt, auf diese Weise geradezu gezüchtet werden. In Gefängnissen gibt es regelmäßig Aufstände, Geiselnahmen und Stürmungen durch Spezialeinheiten mit Toten. Die häufigste Form von Widerstand gegen die Haftbedingungen, Gewalt durch Wärter und schlechte Behandlung, ist die des Hungerstreiks und der Selbstverletzung. Allerdings ist die politische Auseinandersetzung mit dem System Knast in emanzipativen Kreisen zur Zeit praktisch eher schwach. Vereinzelte Kampagnen zur Freilassung einzelner Gefangener vor allem aus dem antifaschistischen Spektrum werden nur von relativ kleinen Gruppen wie „Anarchist Black Cross“ in Moskau und anderen Städten auf das Thema Knast aus emanzipativer Sicht generell ausgeweitet. Es gab vor einigen Jahren auch eine Kooperation zwischen FrontAIDS, einer kleinen anarchistisch geprägten Organisation und Gefangenen, die Zugang zu Medizin gegen HIV forderten.
Zur allgemeinen Lage in Russland ist auch der Einfluss des medialen „inneren Feindes“ im Kaukasus nicht zu unterschätzen, der viele innenpolitische Konflikte überdecken hilft und der seit 1994 andauernde faktische Kriegszustand in Tschetschenien auf russischem Gebiet. Hier werden Spezialeinheiten wie die OMON (Militärpolizei) in Aufstandsbekämpfung trainiert und lassen ihre Kriegserfahrung bei Einsätzen in Großstädten wie Moskau oder St.Petersburg auch gerne raushängen. Die Zusammenarbeit von faschistischen Gruppierungen und staatlichen Organen ist in vielen Fällen offensichtlich. Die russische rechte Szene ist in den letzten Jahren nicht nur rasant gewachsen, auch die Gewalttaten von Rechts haben massiv zugenommen. Allein in Moskau wurden fünf junge Antifaschisten in den letzten Jahren gezielt ermordet. Die repressive und autoritäre Grundstimmung im heutigen Russland wird abgerundet vom „starken Mann“ Putin, der sich gerne als Vaterfigur darstellen lässt und von vielen Menschen auch als solche akzeptiert wird, egal ob in Funktion des Staatsoberhauptes oder nicht.
Im Sommer 2010 nahm die Repression gegen Anarchist_innen und Antifaschist_innen vor allem in der Region Moskau rasant zu. Seit 2007 gibt es Proteste einer Bürger_innen-Initiativen gegen den Bau einer Autobahn bei Chimki. Deren Aktivitäten wurden und werden mit enormer Brutalität unterbunden. So haben die Behörden im Chimki gemeinsam mit den Bauträgern mehr als einmal Gewalt gegen die Waldschützer_innen angewandt: Sie lehnten die Genehmigung von Protestaktionen ab, ließen ohne gesetzliche Grundlage Journalist_innen festnehmen und misshandeln. Unbekannte haben den Chefredakteur der lokalen kritischen Zeitung, „Chimkinskaja Prawda“ Michail Beketow, zum Krüppel geschlagen und den Layouter einer anderen Oppositionszeitung, Sergej Protazanow, ermordet. Ende Juli dieses Sommers bekam die Auseinandersetzung eine neue Qualität. Die Rodung des Waldes wurde begonnen und lokale Leute haben ein Camp im Wald errichtet. Daraufhin engagierte die Baufirma Neonazi-Schläger zur Auflösung der Proteste. Die Administration der Stadt Chimki hatte alle Verhandlungsversuche sabotiert. Daraufhin haben am 28. Juli etwa 300 bis 400 Menschen vor allem aus dem antifaschistischen und linken Spektrum eine Spontandemonstration in der Stadt Chimki durchgeführt, wobei einige Scheiben des lokalen Regierungsgebäudes zu Bruch gingen. Die Aktion erhielt in der Öffentlichkeit viel Zustimmung und Aufmerksamkeit. Das Problem kam dadurch in die Medien und wurde in ganz Russland bekannt. Es war nicht der erste Konflikt dieser Art, aber er schien durch die Spontanität und öffentliche Akzeptanz derart unbequem, dass mit voller Härte reagiert wurde. Die öffentlich auftretenden und engagierten Antifaschisten Aleksej Gaskarow und Maxim Solopow wurden am Tag nach den Vorfällen am Rathaus Chimki im Moskau verhaftet. Die Festnahmeprotokolle von Aleksej und Maxim wurden gefälscht, um vorzutäuschen, sie seien in Chimki festgenommen worden. In Folge der Festnahmen gab es zahlreiche Vorladungen, Hausdurchsuchungen und Verhöre anderer Aktivist_innen. Es gab andauernde Berichte von Misshandlungen auf Polizeistationen, ein Jugendlicher musste nach dem Verhör sogar ins Krankenhaus eingeliefert werden, die Ärzte diagnostizierten ein geschlossenes Schädel-Hirn-Trauma, eine Gehirnerschütterung, Prellungen und Hautabschürfungen im Gesicht. Dies ist kein Einzelfall, sondern der systematische Versuch, unbequeme Aktivist_innen einzuschüchtern und soziale Bewegungen verschiedener systemkritischer Spielarten mit roher Gewalt zu begegenen. Am 31. Juli wurden in Kupawna (Moskauer Gebiet) über 50 Personen unrechtmäßig verhaftet und erkennungsdienstlich behandelt. Am 21. August sprengten Angehörige der Miliz und der Polizeisondereinheit OMON des Moskauer Gebiets ein Wohltätigkeitskonzert in Zhukowskij (Moskauer Gebiet) und nahmen ohne rechtliche Grundlage etwa 70 Personen fest, mindestens 10 davon wurden körperlich misshandelt. Es wurden regelrechte Hetzjagden auf antifaschistisch aktive Personen durchgeführt.
Nach zweieinhalb Monaten Haft ohne Grundlage sind Aleksej und Maxim zur Zeit bis zur Verhandlung im Frühjahr 2011 auf freiem Fuß. Ihnen drohen weiterhin bis zu 7 Jahren Haft wegen „Anstiftung von Massenhooliganismus“.Im Rahmen der Aktionstage, die auf Initiative der Kampagne zur Freilassung der Geiseln von Chimki Ende September zustande kamen, fanden in 35 Städten in 12 verschiedenen Ländern Solidaritätsaktionen für die beiden statt. Aleksejs erste Reaktion nach der Freilassung lautete, er habe einen solchen Beschluss nicht erwartet, da er nicht an die Justiz glaube. Für den 12. bis 15.November sind erneut internationale Aktionstage gegen das Verfahren geplant.

a3yo
www.a3yo.noblogs.org

Zeitungsprojekt „Abolishing the borders from below“:
www.abb.hardcore.lt
Kontakt zu Anarchist Black Cross Moskau:
http://www.avtonom.org/en/anarchist-black-cross
Zum Fall Chimki:
http://khimkibattle.org