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Als David gegen Goliath siegte

Von Günter Wernicke nd 4.9.
Wer weiß heute noch um die Bedeutung des 21. Juli 1954, als in Genf – neben den Verhandlungen zur Beilegung des Koreakrieges – die Indochinaverhandlungen abgeschlossen und der Waffenstillstand in Vietnam vereinbart wurde? Frankreich musste seine Kolonialträume in Indochina nunmehr definitiv ad acta legen. Zugleich war an jenem Tag die – zeitweilige – Teilung Vietnams unterschrieben worden. Und wie viele, vor allem jüngere Menschen, wissen heute noch, dass mit dem Hissen der blau-roten Fahne mit goldenem Stern am 30. April 1975 über dem Doc-Lap-Palast, dem Sitz des von den USA gestützten Saigoner Regimes, ein 30-jähriger leid- und schmerzvoller Unabhängigkeitskampf beendet wurde. Die Kapitulation Saigons ebnete den Weg für die am 2. Juli 1976 erfolgte Wiedervereinigung des südasiatischen Landes. Der Sieg Davids gegen Goliath, des vietnamesischen Volkes über die stärkste Militärmacht der Welt, wirkt noch als Trauma in der US-Außen- und Militärpolitik fort.

 

Hellmut Kapfenberger bietet Einblicke in ein dramatisches Kapitel vietnamesischer Geschichte, in Siege und Niederlagen, Hoffnungen und Enttäuschungen. Er skizziert den zeithistorischen Hintergrund, den Kalten Krieg und das Blockdenken. Er verschweigt nicht die sich fatal auswirkenden Implikationen des sowjetisch-chinesischen Schisma Mitte der 1960er Jahre, das für Hanoi eine Gratwanderung insbesondere im Hinblick auf die notwendige militärische Unterstützung durch beide Mächte erforderte. Mit journalistischer Akribie und offensichtlicher Parteinahme würdigt der Autor Opfermut und Heldentum des vietnamesischen Volkes. Er schöpft aus eigenem Erleben als Korrespondent für die DDR-Nachrichtenagentur ADN und das »Neue Deutschland« 1970 bis 1973 sowie 1980 bis 1984.

Kapfenberger folgt der von Historikern vorgenommen Gliederung des Befreiungskampfes in zwei Phasen – den 1. Indochinakrieg 1946 bis 1954 und den eigentlichen Vietnamkrieg, auch 2. Indochinakrieg genannt, 1955 bis 1975. Zentrale Figur auch in der Weltöffentlichkeit sowie Multiplikator in der weltumspannenden Protestbewegung gegen den Krieg und dessen zunehmend barbarischere und inhumanere Führung durch die USA und deren Verbündete war der charismatische Führer der vietnamesischen Revolution, Ho Chi Minh, 1890 geboren als Nguyen Sinh Cung, gestorben 1969. Zu dessen 40. Todestag hat Kapfenberger übrigens eine gediegene Biografie vorgelegt (Verlag Neues Leben, 2009).

Der Autor schildert kenntnisreich die Entstehung der südvietnamesischen Befreiungsfront und des legendären »Ho-Chi-Min-Pfades« und stellt die verschiedenen Akteure eindrucksvoll vor. Er berichtet über die langfristige und geheime Planung und schließliche Provozierung des Krieges durch die USA, die 1971 der erste Whistleblower, Daniel Ellsberg, mit den sogenannten »Pentagon Papers« enthüllt hatte. Der inszenierte »Zwischenfall« im Golf von Tonkin im August 1964 diente der Rechtfertigung der militärischen Intervention und des folgenden massiven, flächendeckenden Bombardements gegen die DRV. Zugleich geht Kapfenberger auf die umfassende militärische Unterstützung der DRV durch China sowie die Warschauer Vertragsstaaten mit Waffensystemen, logistischer Beratung und Hilfe vor Ort sowie militärischer Ausbildung ein. Unbestritten ist die seinerzeitige ablehnende Haltung Hanois zum Entspannungsprozess in Europa und den Rüstungskontroll- und Abrüstungsverhandlungen zwischen Moskau und Washington; man fürchtete wohl negative Folgen für den eigenen Kampf.

Eine Fülle von Informationen bietet der Autor zum komplexen Kriegsverlauf mit seinen wechselnden Pattsituationen, von der Tet-Offensive als dem Wendepunkt über die »Guam-Doktrin« Nixons und Ausweitung des Krieges nach Laos und Kambodscha. Die Armee Saigons wurde von den USA zur zweitstärksten Asiens hochgerüstet. Die Anfang März 1975 begonnene Frühjahrsoffensive der Befreiungsstreitkräfte fand ihren finalen Abschluss mit dem »Ho-Chi-Minh-Feldzug« ab 26. April, der binnen weniger Tage mit einem vollständigen Sieg der Befreiungskräfte endete. Anschließend bilanziert Kapfenberger die Verluste.

Der Krieg hat über 58 220 US-Soldaten sowie rund 5300 Soldaten der Verbündeten das Leben gekostet. Zwischen 1955 und 1975 waren auf beiden Seiten zwei bis fünf Millionen Vietnamesen und Hunderttausende Kambodschaner und Laoten getötet worden. Acht Millionen Tonnen Sprengstoff waren aus US-Flugzeugen auf Indochina »herabgeregnet«, das Dreifache der gesamten Bombenlast im Zweiten Weltkrieg; hinsichtlich der Explosivkraft zählte man gar das 640-fache der Atombombe von Hiroshima. Über 40 Millionen Liter dioxinhaltiger Herbizide wie Agent Orange wurden über 3,3 Millionen Hektar Dschungel versprüht; sie kontaminierten 3000 Dörfer bzw. 24000 Quadratkilometer Land; die Hälfte der Mangrovensümpfe wurde für immer zerstört.

Weil trotz der Lehren des Vietamkrieges die USA in diesem Jahrhundert neue Kriege entfesselten und das Wissen um den Vietnamkrieg innerhalb der jüngeren Generation gering ist, sei diesem mit Verve geschriebenen Buch ein großer Leserkreis zu wünschen.

Hellmut Kapfenberger: »… unser Volk wird gewiss siegen.« Verlag Wiljo Heinen, Berlin. 414 S., br., 16 €. 2013 erschien vom Autor im gleichen Verlag »Berlin-Bonn-Saigon-Hanoi. Zur Geschichte der deutsch-vietnamesischen Beziehungen« (510 S., br., 19,80 €).

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