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Aufklären statt Bestrafen

Fünf Anmerkungen zu einer alternativen Kriminalpolitik. Von Volkmar Schöneburg
Derzeit wird in den Medien erneut heftig debattiert, ob die Kölner Polizei vor nunmehr knapp einem Jahr versagt hat. Jedenfalls hat sie jetzt ein Konzept vorgelegt, mit dem sie in der bevorstehenden Silvesternacht besser gewappnet sein will. Zudem wird schon vor kriminellen Machenschaften im Bundestagswahlkampf, insbesondere hinsichtlich Falschmeldungen im Internet, gewarnt. Der Bundesjustizminister kündigte außerdem an, die Strafen für Einbruchsdiebstähle noch in dieser Legislaturperiode drastisch zu verschärfen. Auch die staatlichen Organe scheinen vor Populismus nicht gefeit. Der 1968 verstorbene hessische Generalstaatsanwalt und Initiator der Auschwitzprozesse Fritz Bauer schrieb in diesem Zusammenhang vom Erbe aus der Affenzeit. Da ist eine Argumentation gegen den Strom angebracht, die hier thesenartig formuliert sei.

1.

»Was ist ein Dietrich gegen eine Aktie? Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?«, formulierte Bertolt Brecht in der »Dreigroschenoper«. Dass mit dem Wort »Dieb« automatisch Polizei, Gericht und Gefängnis assoziiert wird, diese Assoziation aber bei dem Begriff Profit oder Finanzmakler ausbleibt, ist eine der bedeutendsten Errungenschaften bürgerlicher Hegemonie. Wie die jüngste Debatte um die Verschärfung des Sexualstrafrechts (Nein ist Nein bei jeder Vergewaltigung, Kriminalisierung von »Grapschern«) zeigt, fordern auch Linke eine »alternative« Kriminalisierung. Sebastian Scheerer, Kriminologe und Soziologe, nannte diese schon 1986 »atypische Moralunternehmer«. Deutlich wird die unheilige Symbiose von sozialen Unwerturteilen und Strafjustizsystem: Eine »moralische Bestrafung« kann gar nicht mehr anders gedacht werden als in den Kategorien von Justiz und Knast. Deshalb ist es zunächst für eine alternative Kriminalpolitik erforderlich aufzuklären. Der Blick darf nicht durch die dem Strafrecht selbst verordnete Rhetorik der Moral vernebelt werden.

2.

Das heutige Strafrecht gibt vor, bestimmte Strafzwecke und -ziele zu verfolgen. Seit Ende des 19. Jahrhunderts ist der von Franz v. Liszt proklamierte »Zweckgedanke im Strafrecht« der zentrale Topos der strafrechtswissenschaftlichen Diskussion. Damit verknüpft war zugleich die Zurückdrängung der metaphysischen Rechtfertigung der Strafe aus sich selbst heraus, als eine Art Unrechtsausgleich, wie sie am klarsten von Kant und Hegel ausgearbeitet wurde. Nimmt man jedoch die Ergebnisse der Sanktionsforschung ernst, so sind die spezial- und generalpräventiven Wirkungen des Strafrechts nicht von gewichtiger Art.

Beispielsweise hat der 2015 verstorbene norwegische Kriminologe Nils Christie durch die Analyse der Gefangenenzahlen in verschiedenen Industrieländern und ihres Verhältnisses zur Kriminalitätsrate des jeweiligen Landes herausgefunden, dass sich Gefangenenzahlen und offizielle Kriminalitätsraten unabhängig voneinander ändern. Oder: Es findet sich kein einziges überzeugend dokumentiertes Beispiel dafür, dass selbst nach der völligen Streichung eines Tatbestandes aus dem Strafgesetzbuch die entsprechenden Handlungen gravierend zugenommen hätten. Dasselbe gilt für die Verringerung einer Sanktion bei Beibehaltung des Verbots. Das bekannteste Beispiel ist die Abschaffung der Todesstrafe, auf die die Morde keineswegs sprunghaft zunehmen. Schließlich gibt es die Fälle, wo die Einführung eines neuen Tatbestandes oder die Verschärfung der Strafsanktionen die entsprechenden Handlungen nicht reduziert haben. Ein Strafrecht, das weiterhin von seinen Ergebnissen her argumentiert, kann sich mit dem Präventionskonzept der Verhaltenssteuerung nur blamieren.

3.

Kriminalpolitik und darin eingebettet die Strafpolitik sind im Modus der Macht und Machtausübung zu diskutieren. Es stellt sich also die Frage, warum der Ruf nach mehr Strafrecht, wofür die staatlichen Sündenregister, sprich die Kriminalstatistiken, dramatisiert werden, in den letzten 20 Jahren eine populistische Kriminalpolitik prägte. Einige Antwortversuche sollen hier angeboten werden:

a) Betrachtet man einmal die Gesellschaftsprobleme, auf die sich die Kriminalisierungsforderungen beziehen, so sind das beispielsweise Probleme, die von sozialökonomischen und politischen Konfliktlagen bestimmt werden (Formen der Gewaltkriminalität, Terrorismus) oder mit dem globalisierten Kapitalismus im Zusammenhang stehen (Umwelt, Drogen- und Menschenhandel, Terrorismus). Indem die Politik die sozialen Problemlagen auf das strafrechtliche Zurechnungsmodell von individueller Schuld bringt, sie auf individuelle Normabweichung reduziert, macht sie strukturelle Probleme politisch handhabbar und demonstriert Handlungsfähigkeit. Zugleich werden den Gesellschaftsproblemen ihre Entstehungsgeschichte (diese wird auf die Momentaufnahme der kriminellen Tat eingegrenzt) und ihr Bedingungszusammenhang genommen. Strukturpolitische Interventionen erspart man sich gleichzeitig. Der strafjuristische Zugriff bewirkt einen Ausblendungs- und Verschleierungsmechanismus, durch den gesellschaftliche Probleme personalisiert werden und der politischen Zurechnung entgehen. Man kann diese Effekte in der Diskussion über die Ereignisse in der Silvesternacht am Kölner Hauptbahnhof sehr gut nachzeichnen.

b) Das Strafrecht wird durch die Politik kommunikativ funktionalisiert. Strafgesetze dienen nicht primär der realen Strafverfolgung, sondern verdeutlichen soziale Werte (Nein-ist-Nein-Debatte). Zudem werden Macht und Einfluss im Kampf um das Recht demonstriert. Darüber hinaus werden Kriminalisierungsforderungen in allen politischen Lagern als Mittel symbolischer Wertebekräftigung geschätzt.

c) Das traditionelle Strafrecht stützt die vertikale Struktur der Gesellschaft, indem es die untere Unterschicht, die »Kriminellen« verwaltet. Die Mehrzahl der in Deutschland einsitzenden Strafgefangenen verbüßt kurze oder mittlere Freiheitsstrafen wegen Eigentums- bzw. Vermögensdelikten. Überwiegend sind es »Rückfalltäter«. Bis zu zehn Prozent der Inhaftierten sitzen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab, weil sie eine verhängte Geldstrafe nicht bezahlen können. Der französische Soziologe Loic Wacquant charakterisierte in diesem Kontext das Gefängnis als eine Art »Sozialstaubsauger, der den menschlichen Abfall der derzeitigen ökonomischen Transformation beseitigt.«

4.

Die unangemessene Inanspruchnahme des Strafrechts durch die Politik führt zu einer Erosion des rechtsstaatlichen, des den Eingriff des Staates begrenzenden Strafrechts. Der Rechtsstaat verpflichtet staatliche Gewalt, wo sie sich strafrechtlich in Szene setzt, auf ein historisch vorgegebenes, ausgefeiltes Begründungsmuster. Der Rechtsstaat lässt strafende Repressionen lediglich in gesetzlich ausgegrenzten Einzelfällen von grundsätzlicher Bedeutung zu. Ein Verhalten dürfe nur unter Strafe gestellt werden, wenn es in besonderer Weise sozialschädlich sei. Dabei müsse die Kriminalisierung geeignet und angemessen sein, urteilte das Bundesverfassungsgericht. »Rechtsstaat ist die Messlatte jeder Freiheitsbeschränkung – und nicht der Stab, mit dem man die Latte bequem überspringen kann«, schrieb der deutsche Rechtswissenschaftler Detlef Krauß. Nicht nur beim Drogenstrafrecht und bei der jüngsten Verschärfung des Sexualstrafrechts wird dieser Anspruch des rechtsstaatlichen Strafrechts verfehlt.

5.

Was leitet sich aus den Befunden für eine alternative Kriminalpolitik ab?

a) Es ist auch im Rahmen der Kriminalpolitik eine politische Aufgabe ersten Ranges, den Versuchungen einer Politik des Populismus zu widerstehen und entgegenzuwirken. Eine konsequente Anti-Ressentiment-Politik ist gefragt und nicht eine alternative Kriminalisierung. Zu kritisieren und zu skandalisieren ist das Ausweichen der Gesellschaftspolitik auf die Kriminalpolitik.

b) Eine alternative Kriminalpolitik muss konsequent grundrechtsorientiert sein. Insofern ist die liberale Funktion der Begrenzung des staatlichen Eingriffs durch das Strafrecht zu verteidigen.

c) Daher ist Bestandteil dieser Kriminalpolitik das Eintreten für eine Entkriminalisierung der Bagatelldelikte (z. B. Schwarzfahren, Ladendiebstahl) und im Drogenstrafrecht. Es sind nämlich gerade die Opfer, die das Drogenstrafrecht in ihrer ausweglosen Situation kriminalisiert. 80 Prozent der wegen Drogendelikten Einsitzenden sind suchtabhängige Kleindealer. Deshalb haben 122 Strafrechtsprofessoren in einer Petition im April 2014 die herrschende Drogenpolitik als sozialschädlich und gescheitert erklärt. Die Drogenproblematik ist tendenziell aus dem strafrechtlich-polizeilichen Bereich in den sozial-gesundheitlichen zu verlagern. Zudem ist die Ersatzfreiheitsstrafe abzuschaffen. Dieses sozialpolitische Problem ist sozialpolitisch zu lösen. Gleichzeitig entlastet die Durchsetzung solcher Forderungen den Strafvollzug.

d) »Das Gefängnis – ein überholtes Prinzip« – das ist die berechtigte Auffassung des Gefängnisdirektors Thomas Galli. Das Gefängnis ist per se kein Ort des positiven sozialen Lernens. Es ist ein Ort der Entindividualisierung, der verschiedenen Machtdemonstrationen, der Anpassung, Gewalt, Unterordnung, Verrohung. Zu den schwersten Einschränkungen für die Gefangenen zählen der Verlust an Rechtssicherheit und Autonomie. Nils Christie hat dies auf den Punkt gebracht: Wir leisten uns hier einen Apparat, dessen Aufgabe es ist, systematisch Schmerz auszuteilen. Folglich muss eine alternative Kriminalpolitik aus der Perspektive der Abschaffung der Gefängnisse auf eine Reduktion der Gefangenenzahl ausgerichtet sein (siehe c). Daneben sollte den negativen Tendenzen im Vollzug entgegengewirkt werden. Das gelingt mit einer Ausweitung des offenen Vollzugs oder einem Ausbau der Lockerungspraxis und des Wohngruppenvollzugs. Gleichzeitig müssen ausreichend therapeutische Hilfen sowie Aus- und Weiterbildungsmöglichkeiten vorgehalten werden.

Außerdem muss sich eine alternative Kriminalpolitik auf die Verbesserung der Rechtsstellung der Gefangenen konzentrieren. Das kann über »negative Reformen« (Thomas Mathiesen), also über die ersatzlose Streichung bestimmter Regelungen geschehen. Beispiele dafür sind der Wegfall des Arrests, des Knasts im Knast, oder der Zwangsarbeit. Zudem sind den Gefangenen mehr einklagbare Rechte einzuräumen. Dazu zählen die Eingliederung in die Sozialversicherungssysteme, ein Recht auf wirtschaftlich ergiebige Arbeit, auf Langzeitbesuch, Einzelunterbringung oder Drogensubstitution. Zu vermeiden sind dabei sogenannte Ermessensvorschriften, die der Verwaltung weite Spielräume bei der Entscheidung über die Gewährung bestimmter Rechte geben.

e) Wenn die Wirksamkeit des Strafrechts begrenzt ist, muss nach besseren, sozialeren Regulierungsmitteln gesucht werden. Solche liegen auf dem Feld der Sozialpolitik oder im Aufbau konkreter gesellschaftlicher Ressourcen zur Bewältigung schwieriger Situationen (Frauenhäuser sind dafür ein gutes Beispiel). Möglichkeiten der Wiedergutmachung sind zu verbessern, zum Beispiel durch einen Ausbau des Täter-Opfer-Ausgleichs. Denkbar wäre auch eine Ausdehnung des Rechtsinstituts der »tätigen Reue«, um eine Haftstrafe zu vermeiden. Es müssen Formen des direkten Ausgleichs der am Konflikt Beteiligten gefördert werden.

Letztlich geht es bei einer alternativen Kriminalpolitik um eine Politik, die auf allen Gebieten gegen den sozialen Ausschluss gerichtet ist. Es ist eine Politik, deren Aktualität angesichts der massiven wirtschaftlichen Ausschlussvorgänge auf der Hand liegt.
Der Rechtswissenschaftler Dr. Volkmar Schöneburg, Jg. 1958, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften der DDR und an der Humboldt-Universität zu Berlin und war Verfassungsrichter sowie Justizminister des Landes Brandenburg. Seit 2014 ist er Abgeordneter des brandenburgischen Landtags und Fraktionssprecher für Medienpolitik. In seinen Veröffentlichungen befasst er sich vor allem mit Rechtsgeschichte und Strafrecht.

http://epaper.neues-deutschland.de/eweb/nd/2016/12/17/a/23/1157583/