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Sozialgeschichtliche Untersuchung zur Roten Hilfe Deutschlands in der Illegalität ab 1933

Erster Band der Schriftenreihe des Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe erschienen

Michael Dandl

Erinnern bedeutet – aus sozialgeschichtlicher Perspektive – immer Kämpfen. Es bedeutet, sich die ehedem geführten Kämpfe gegen unzumutbare Verwerfungen gesellschaftlicher Zustände und oktroyierter Staatsmachtkonstellationen nachträglich verdichtend anzueignen und sie plausibel erlebbar ins Jetzt zurückzuholen. Und es bedeutet – wie in der vorliegenden Untersuchung zur Geschichte der Roten Hilfe -, historische Leerstellen zu füllen, indem den Akteur*innen jener massenbewegten Kämpfe in anschaulicher, kontextualisierender Weise Namen, Orte und politische Aktionsradien zugewiesen werden – und ihr hochgradig lebensgefährliches Engagement in komplexe Zusammenhänge eingebettet wird.

Mit der seit Mitte September 2016 vorliegenden Arbeit Silke Makowskis wird nun zum ersten Mal ein ausführlicher erinnerungspolitischer Text veröffentlicht, der sich vertiefend und klar konturierend mit der unerträglichen Situation auseinandersetzt, in die eine in der Weimarer Republik (1918 – 1933) aufgebaute Massenorganisation mit zum Zeitpunkt ihres Verbots mehr als einer Million Mitgliedern nach der Machtübertragung an die Faschisten geraten war. Der 120 Seiten umfassende, durchweg bebilderte DIN A4-Band mit dem Titel „Helft den Gefangenen in Hitlers Kerkern“ ist ein auf jahrelanger wissenschaftlicher Recherche fußender Text über die Anfang der 1920er Jahre gegründete Rote Hilfe Deutschlands (RHD) in der Illegalität ab 1933.

Mit ihm ist es nun aufarbeitungstechnisch möglich, sich einen nahezu kompletten Zugang zu verschaffen zu den antirepressiven Konfliktlinien in einem an die Schaltstellen der Staatsmacht gehievten Herrschaftssystem des offenen Terrors und der nahezu lückenlosen Ausmerzung aller als „volksgemeinschaftsgefährdend“ Deklarierten. Politische Repression, hierbei freilich in seiner brutalsten, willkürlichsten Form zum Tragen kommend, ist zwar immer der auf das jeweilige Regime „zugeschnittene“, selbstlegitimatorische, selbstreferenzielle Versuch, grundlegenden Wandel der als unumstößlich apostrophierten Verhältnisse dauerhaft zu verhindern; aber die nationalstaatlicherseits hierfür zur Verfügung stehenden Mittel – aufgeschlüsselt in gewaltmonopolistisch getragenen Apparaten, Bürokratien und Institutionen – können sich derart divergierend materialisieren, dass das für die von ihrem Einsatz Betroffenen den Verlust ihres Arbeitsplatzes, ihrer Gesundheit, ihrer Freiheit, ihres sozialen Umfelds oder eben ihres eigenen Lebens bedeuten kann.

Silke Makowskis Arbeit gibt uns allen nicht nur die Instrumentarien an die Hand, uns dem konkretisierten Leben jener Roten Helfer*innen zu nähern, die für das organisierte, juristisch unterfütterte und im sozialen Verbund mit vielen anderen bewerkstelligte Thematisieren, Aufbereiten und Zurückdrängen staatlicher Repression unter den Vorzeichen faschistischer Totalität einen hohen, nicht mehr kalkulierbaren Preis bezahlen mussten; nein, sie verdeutlicht in beinahe schon plastischer Weise, dass diese mutigen, überzeugten Menschen bei allen im Nachhinein verifizierbaren Fehlern und im Angesicht einer massiven Infiltration mit Gestapo-Spitzeln eines nicht aus dem revolutionären Blickwinkel hinaustreten haben lassen: dass ihr Tun, dass ihr Agieren in den unterschiedlichsten Facetten Referenzpunkte bilden für jene, die sich „in späteren Zeiten“ in ähnlichen Situationen befinden werden.

Der lesenswerte Band – Ergebnis intensiver Recherche – ist in sieben große Themenblöcke gegliedert, die je nach Fülle des zur Verfügung stehenden Materials in aller Ausführlichkeit präsentiert werden – flankiert von der hochwertigen, exakt positionierten Präsentation eines umfangreichen Bilderarsenals:

Nach einem kurzen historischen Abriss über die Rote Hilfe Deutschlands (RHD) in der Weimarer Republik beginnt die Arbeit mit dem ersten großen Kapitel, das sich aus allen erdenklichen repressionstechnischen Perspektiven mit dem Übergang dieser Massenorganisation in die Illegalität beschäftigt – im März 1933 war die RHD „offiziell“ verboten worden -, und dann die jeweils zum Tragen kommenden „Formen der illegalen Solidaritätsarbeit“ durchdekliniert. Dieser größte aller Themenblöcke endet mit einer längeren Beschreibung des illegalen Apparats der RHD.

Das zweite Kapitel handelt von der „Solidaritätsarbeit in der Provinz“, weil es Makowski aus deskriptiven Gründen wichtig erschien, den Blick weg von den Metropolen des faschistischen Reichsgebiets auf jene Räume zu fokussieren, in denen „sich die Solidaritätsgruppen weitaus schwierigeren Bedingungen gegenüber [sahen] als in der Anonymität der Großstädte“ ( Seite 41). Hierbei kommt die Situation in ostthüringischen Gebieten genau so vor wie jene an der südhessischen Bergstraße oder in der Vorderpfalz.

Dieser vergleichsweise eher kürzeren Abhandlung folgt ab Seite 47 der dritte größere Teil über die unter ständiger Lebensgefahr entstehenden „Druckschriften der RHD in der Illegalität“ – ein unglaublich facettenreiches Thema bei einer solch mitgliederstarken Organisation, die vor ihrem Verbot „ein breitgefächertes Spektrum von reichsweiten und lokalen Zeitungen, Flugblättern und Broschüren sowie Büchern heraus[brachte] und über ein weitreichendes Vertriebsnetz“ verfügte. Viele Druckschriften mussten bald im nicht-faschistischen Ausland gedruckt und dann ins Reichsgebiet eingeschleust werden; der RH-eigene MOPR-Verlag beispielsweise hatte seinen Sitz schließlich in Zürich und Paris. Zur Sprache kommen in diesem Kapitel auch verschiedene technische Arbeitsverfahren aus dem Untergrund, zum Beispiel, wie „wir uns selbst einen Abziehapparat“ bauen (Abbildung auf Seite 50). Die Solidaritätsgruppen sahen sich vor enorme Schwierigkeiten gestellt…

Der vierte spezifische Themenblock behandelt die Situation von Frauen in der illegalen RHD. Immerhin betrug der Anteil weiblicher Mitglieder im Jahr 1932 (also noch vor der Illegalität) fast 27% – „verglichen mit den deutlich dürftigeren Prozentsätzen der Parteien und anderer Massenorganisationen eine stolze Zahl“ (Seite 53). Makowski spürt in diesem Kapitel den Gründen nach, die dazu führten, dass sich auch die Arbeit in der Klandestinität nicht zu einer reinen Männerdomäne entwickeln konnte, in der es fundamentale Vorbehalte gegenüber der Einbindung von Genossinnen in die „Solidaritäts- und Kampffront“ gegeben hätte. Stellvertretend für das unverzichtbare Engagement von Antifaschistinnen wird an exponierter Stelle der einzigartige Lebenslauf der Genossin Lore Wolf präsentiert, die international für die Rote Hilfe aktiv war. Sie starb 1996 in Frankfurt am Main.

Nach drei kürzeren Abhandlungen über die Einheitsfrontpolitik der RHD, die (bis heute umstrittene) Taktik des „Trojanischen Pferdes“ und die RHD-Aktivitäten in den „Kerkern Hitlers“ beginnt dann auf Seite 73 das fünfte größere Kapitel. Es handelt von den RHD-Grenzstellen und der internationalen EmigrantInnenarbeit. Zwar hatte es „schon vor 1933 … eine enge Zusammenarbeit der Rote-Hilfe-Organisationen im weltweiten Dachverband der Internationalen Roten Hilfe (IRH) gegeben“ (Seite 73), aber unter dem Eindruck einer terroristisch-faschistischen Ein-Parteien-Diktatur (unter dem „Führer“ Adolf Hitler) mussten nun entlang der Reichsgrenzen Auslandsbüros geschaffen werden, „um die Solidaritätsaktivitäten in NS-Deutschland zu unterstützen und ganze Aufgabenbereiche zu übernehmen, die unter dem Repressionsdruck weitgehend zum Erliegen gekommen waren“ (ebd.). Schließlich gab es solche Grenzstellen in fast allen angrenzenden, vom Faschismus noch nicht überrollten Ländern, aber vor allem in der Schweiz, in Frankreich, in Dänemark, in der Tschechoslowakei, in Belgien. Über die Tangente „Schaffhausen – Tiengen – Singen“ hatte sich beispielsweise an der deutsch-schweizerischen Grenze ein Schwerpunkt der über RH-Strukturen koordinierten und organisierten Fluchthilfe entwickelt; auch der Literaturschmuggel lief – jahrelang erfolgreich – über diese Achse.

Direkt abgelöst – auf Seite 87 – wird dieses fünfte Schwerpunktthema vom sechsten Haupttext, der sich dann nochmals intensiver mit den singulären Formen des faschistischen Staatsterrors gegen RHD-Aktivist*innen beschäftigt, der direkt nach dem Reichstagsbrand am 28. Februar 1933 mit der Stürmung der Räumlichkeiten der sozialistischen Massenverbände und einer damit einhergehenden gewaltigen Verhaftungswelle eingeläutet worden war. Sinnbildlich und fast schon plastisch sich ins Gedächtnis der Rezipient*innen einnistend wird dieser mit unzähligen Leichen gepflasterte Terror des NS-Regimes, wenn beschrieben wird, wie ein langjähriger Genosse, der sich zeitlebens einem engagierten und kämpferischen Antifaschismus verschrieben hatte, im August 1933 im Gelsenkirchener Gerichtsgefängnis so zugerichtet, „so viehisch verstümmelt [wurde], dass der Amtsarzt sich weigerte, als Todesursache Herzschlag anzugeben“ (Seite 87). Es handelt sich um Oskar Behrendt, den RHD-Bezirkssekretär des Ruhrgebiets, der von SA-Schergen festgenommen worden war. In diesem Abschnitt beschäftigt sich Makowski auch ausführlich mit dem ersten Todesurteil gegen einen RHD-Funktionär: Rudolf Claus – RHD-Reichsleitungsmitglied – wurde am 17. Dezember 1935 in Berlin-Plötzensee hingerichtet. Dieser Justizmord verschob die Koordinaten für die politische Arbeit grundlegend; zum ersten Mal war ein Todesurteil der NS-Justiz wegen eines reinen „Meinungs- und Organisationsverbrechens“ ausgesprochen worden! Hinzu kam, dass es die massiv dagegen in Stellung gebrachten internationalen Arbeiter*innenorganisationen „nicht fertig gebracht haben, eine Begnadigung des Claus zu erreichen“ (der NSDAP-Reichsstatthalter in Hessen am 3. Februar 1936).

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Den siebten Themenkomplex bilden dann die letzten Jahre der Roten Hilfe. Zur Veranschaulichung hervorgehoben werden hierbei zwei eng damit verwobene Widerstandsgruppen. Beim ersten dieser Zusammenschlüsse handelt es sich um die während des Zweiten Weltkrieges im Raum Mannheim/Heidelberg aktive „Vorbote-Gruppe“, bei der anderen Gruppe um den Darmstädter Zusammenhang um den langjährigen Rote-Hilfe-Aktivisten Georg Fröba. Im ersten Fall dehnte sich die ab Februar 1942 einsetzende Repressionswelle schließlich auf etwa 60 Personen aus, von denen „drei bereits in den brutalen Gestapo-Verhören ums Leben [kamen]. Neunzehn WiderstandskämpferInnen wurden in zwei Großprozessen zum Tode verurteilt und enthauptet, gegen die übrigen wurden langjährige Freiheitsstrafen verhängt“ (Seite 100). Im zweiten Fall wurden fünf Personen, die der Fröba-Gruppe zugeordnet worden waren, vor Gericht gestellt, von denen dann wiederum einer – Georg Fröba als Kopf der Solidaritätsgruppe – zum Tode verurteilt und am 27. Oktober 1944 hingerichtet wurde; die anderen erhielten wegen „Vorbereitung zum Hochverrat“ Zuchthausstrafen zwischen drei und acht Jahren.

Die umfangreiche Pionierarbeit Makowskis endet mit einem fünfseitigen Exkurs zum politischen Exil, das viele Rote Helfer*innen selbstverständlich auch in die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken führte. Dort unterstützte dann die MOPR – einem IRH-Beschluss von 1934 folgend – diejenigen Geflüchteten, die „nach der üblichen Überprüfung offiziell anerkannt worden waren (das waren vor 1936 nur etwa 600 Nazigegner*innen), mit „unentgeltliche[m] Wohnraum, Nahrung und notwendige[r] Kleidung, [mit] eine[r] finanziellen Beihilfe von 50 Rubeln monatlich [und] medizinische[r] Betreuung“ (Seite 103). Allerdings wurde ihnen von Anfang an „nahegelegt“, nach einer kurzen Atempause „in den Widerstand zurückzukehren“ – also ins faschistische „Deutsche Reich“! Der Dachverband MOPR wurde dann aber ab März 1937, als Josef W. Stalin „revolutionäre Wachsamkeit“ als bestimmendes Leitmotiv seiner Innen- und Außenpolitik konsolidiert hatte, wegen seiner internationalen Ausrichtung und seiner intensiven Zusammenarbeit mit den „ausländischen“, also außerhalb der UdSSR aktiven Sozialist*innen zu einem zentralen Ziel der einsetzenden „Säuberungen“. Viele Rote-Hilfe-Aktivist*innen, die es unter oftmals lebensbedrohlichen Bedingungen in die Sowjetunion geschafft hatten und aus Mitteln der IRH versorgt worden waren, wurden verhaftet. Schließlich erklärte der sowjetische Geheimdienst NKWD 1938, dass „jeder Deutsche im Ausland ein Agent der Gestapo“ sei und unzählige „faschistisch-terroristische Terrororganisationen“ ihr Unwesen trieben. Die traurigen Höhepunkte dieser „Säuberungen“ – in Bezug auf RHD-Funktionär*innen – waren die staatlich legitimierten Ermordungen von Felix Halle (1938) und Walter Dittbender (1939). Der RHD-Mitbegründer Felix Halle war Verfasser der meistgelesenen RH-Broschüre „Wie verteidigt sich der Proletarier in politischen Strafsachen vor Polizei, Staatsanwaltschaft und Gericht“; der Leiter der Emi-Arbeit der RHD auf Reichsebene, Walter Dittbender, hatte bis 1938 die Exilant*innen „im Vaterland aller Werktätigen“ betreut.

Mit diesem Ersten Band der Schriftenreihe des in Göttingen ansässigen Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe wird die mühevolle Aufgabe in Angriff genommen, Antirepressionsarbeit im Rahmen einer strömungsübergreifenden, linken Solidaritätsorganisation punktgenau in die jeweils um sie herum installierte staatliche Herrschaftsarithmetik einzubauen und auf der Basis der bisher gemachten Erfahrungen (unter unterschiedlichen politischen Unterdrückungsagenturen) nach gangbaren Wegen Ausschau zu halten, die Zugriffsmöglichkeiten des nach innen und außen aufgerüsteten Systems permanent ins Leere laufen zu lassen. Dass antirepressives Engagement an keiner Stelle der Geschichte jemals einen Punkt der „absoluten Sicherheit“ vor staatlichen Angriffen erreichen konnte (auch heute nicht!), beweist nur, dass der Feind – also das System, das es im emanzipatorischen Sinne zu überwinden gilt -, Mittel anwendet, die bisweilen auch ins Eliminatorische gehen können – und wenn wir physisch vernichtet werden, dann gibt es selbstverständlich bald keine*n mehr, die*der überhaupt noch um Befreiung kämpfen kann. Es heißt aber nicht, dass alles, was wir und unsere Genoss*innen getan haben, um staatliche Repression substanziell zu treffen und porös werden zu lassen, immer schon umsonst war, weil dieses Tun in der eigenen Auslöschung als revolutionäres Subjekt enden kann. Im Gegenteil: Es bedeutet, dass es richtig war, richtig ist – und richtig sein wird.

Tretet ein in die Rote Hilfe!

Silke Makowski: „»Helft den Gefangenen in Hitlers Kerkern«. Die Rote Hilfe Deutschlands in der Illegalität ab 1933“, Schriftenreihe des Hans-Litten-Archivs zur Geschichte der Roten Hilfe [Band 1], Herausgegeben vom Göttinger Hans-Litten-Archiv, München im September 2016: Verlag Gegen den Strom, Brosch. DIN A4, 120 Seiten, ISBN 3-9809970-4-9, Preis: 7,00 € ( erhältlich im Rote-Hilfe-Literaturvertrieb)

https://www.rote-hilfe.de/77-news/759-sozialgeschichtliche-untersuchung-zur-roten-hilfe-deutschlands-in-der-illegalitaet-ab-1933