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Brücke in die islamische Welt

BERLIN/ANKARA  – Die Bundesregierung startet einen „Strategischen Dialog“ mit der Türkei. Eine entsprechende „Gemeinsame Erklärung“ haben die Außenminister der beiden Länder am Sonntag in Berlin unterzeichnet. Sie sieht regelmäßige Konsultationen nicht nur der beiden Außenminister, sondern auch der maßgeblichen Führungsebene der Ministerialbürokratien (Staatssekretäre/Staatsminister) vor, die durch spezialisierte Arbeitsgruppen vor- und nachbereitet werden sollen. Hintergrund ist der rasch zunehmende Einfluss der Türkei vor allem in Nordafrika sowie in Nah- und Mittelost, der dem außenpolitischen Konzept der 2002 an die Macht gelangten AKP-Regierung entspricht.

Er geht unter anderem mit einer zunehmenden Geschäftstätigkeit der türkischen Wirtschaft in der arabisch-islamischen Welt einher, während die Wirtschaftskontakte in die EU deutlich schwächer werden – nicht zuletzt wegen der Euro-Krise. Nur die Bundesrepublik hält ihre Position als stärkster Wirtschaftspartner der Türkei insgesamt. Berlin sucht sich nun auch politisch stabilen Einfluss auf Ankara zu sichern – nicht zuletzt mit Blick auf den Syrien-Krieg. In regierungsnahen türkischen Medien ist von einer Zerschlagung Syriens sowie einer vollständigen territorialen Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens die Rede.

Strategischer Dialog

Deutschland beginnt einen langfristig angelegten „Strategischen Dialog“ mit der Türkei. Dies geht aus einer „Gemeinsamen Erklärung“ hervor, die der deutsche Außenminister Guido Westerwelle und sein türkischer Amtskollege Ahmet Davutoğlu am Sonntag in Berlin unterzeichnet haben. Die Erklärung sieht regelmäßige Treffen der Außenminister beider Länder vor, die „mindestens einmal im Jahr“ stattfinden sollen – „abwechselnd in Deutschland und in der Türkei“.[1] Ergänzend sollen vertiefende Konsultationen auf der Ebene der Staatssekretäre bzw. Staatsminister durchgeführt werden. Zudem ist die Einrichtung mehrerer Arbeitsgruppen vorgesehen, die sich verschiedensten Themen der internationalen Politik widmen. Konkret angekündigt sind bereits Arbeitsgruppen, die die bilateralen Beziehungen beider Länder, die „Sicherheitspolitik“, den „Anti-Terror-Kampf“, eine sogenannte Partnerschaft für Europa und allgemein „regionale und internationale Angelegenheiten“ diskutieren sollen. Sämtliche Gespräche finden unter dem Dach der Außenministerien statt. Ziel ist eine enge Abstimmung auf dem weiten Gebiet der Außenpolitik.

Anatolische Tiger

Hintergrund für die Aufnahme des „Strategischen Dialoges“ ist das rasche Erstarken der Türkei im Verlauf der letzten zehn Jahre. Am Bosporus befindet sich seit den 1990er Jahren eine islamistisch geprägte neue Wirtschaftselite im Aufschwung, deren politischer Arm – die Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) des heutigen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan – das Land seit 2002 regiert (german-foreign-policy.com berichtete [2]). Die neuen Industriellen, hierzulande mit Blick auf ihre geographische bzw. religiöse Herkunft häufig als „anatolische Tiger“ oder „islamische Calvinisten“ bezeichnet, haben das wirtschaftliche Gewicht der Türkei spürbar vergrößert. Auch wenn 2012 das türkische Bruttoinlandsprodukt lediglich um knapp 2,2 Prozent wuchs – nach Steigerungen um 9,2 Prozent 2010 und 8,8 Prozent 2011 -, halten Ökonomen einen Aufstieg des Landes unter die zehn größten Volkswirtschaften weltweit bis zum Jahr 2050 für durchaus möglich.[3] Dabei zeigt sich in jüngster Zeit, dass der Aufstieg der Türkei mit einem erheblichen Einflussverlust der EU in Ankara einhergeht.

Neo-Osmanismus

Einerseits ist dies eine direkte Folge der Euro-Krise, die einen deutlichen Rückgang des türkischen Handels mit der EU mit sich gebracht hat. Gingen 2007 noch 56 Prozent der türkischen Exporte in die Eurozone, waren es 2012 nur noch 40 Prozent. Aus türkischer Sicht ragt in der EU lediglich die Bundesrepublik heraus, die nicht nur größter Handelspartner, sondern mit einem Volumen von fast 8,9 Milliarden US-Dollar seit 1980 vor allem der größte ausländische Investor im Land ist. Ankara hat außerdem mit dem Amtsantritt der AKP-Regierung eine außenpolitische Wende eingeleitet, die insbesondere auf die arabisch-islamische Umgebung der Türkei sowie darüber hinaus auf islamisch geprägte Länder in Europa (Bosnien-Herzegowina), Afrika und Asien zielt. Dabei kann Ankara auf islamistische Netzwerke bauen, die seiner neuen islamistisch geprägten Elite nahestehen (german-foreign-policy.com berichtete [4]). Handelszahlen lassen die Verschiebung klar erkennen: Während die Exporte in die EU zurückgingen, nahmen die Lieferungen nach Nordafrika und nach Mittelost im Zeitraum von 2007 bis 2012 von 18 auf 34 Prozent der türkischen Gesamtausfuhr zu. Begleitet wird dies von wachsenden Bemühungen, auch politisch in den Staaten der Region Einfluss zu nehmen; Kritiker bezeichnen das Konzept oft als „Neo-Osmanismus“.

Die AKP als Vorbild

Beispiele bietet die aktuelle Entwicklung in Nordafrika und Mittelost zur Genüge. Die Geschäfte der Türkei etwa mit Libyen stiegen nach dem Amtsantritt der AKP-Regierung im Jahr 2002 rapide an; türkische Firmen hätten „von der Normalisierung der Beziehungen Libyens zum Westen“ nach der Aufhebung der Sanktionen 2004 „überdurchschnittlich profitiert“ [5], erklärt die bundeseigene Außenwirtschaftsagentur Germany Trade and Invest (gtai). Zwar brachen die Geschäfte wegen des Krieges 2011 dramatisch ein, erreichten jedoch laut Angaben aus Ankara bereits 2012 einen neuen Rekordwert. Mit einem weiteren Aufschwung wird gerechnet, seit der libysche Ministerpräsident im Februar bei einem Besuch in der Türkei dortigen Firmen eine Entschädigung für kriegsbedingte Verluste in Libyen zugesagt hat. Auch in Ägypten sowie im Irak wächst der Wirtschaftseinfluss der Türkei rasant. Hinzu kommt, dass für islamistische Parteien wie die Muslimbruderschaft Ägyptens und ihr libysches Pendant Erdoğans islamistische AKP als Vorbild gilt. Dies stärkt die türkische Position zusätzlich.

Interventionspläne

Erhofft sich Berlin von einer Zusammenarbeit mit Ankara mittlerweile Vorteile bei seiner eigenen Einflussarbeit in Nordafrika und Mittelost, so gilt dies erst recht für Syrien. Dort hat der Krieg die türkischen Bemühungen, nicht nur profitable Geschäfte in dem Land zu machen, sondern es auch als Transitland zur weiteren Südost-Expansion in Richtung Arabische Halbinsel zu nutzen, vorerst zunichte gemacht. Ankara ist deshalb in stärkerem Maße als anderen Staaten an einer – wenn nötig auch militärischen – Beendigung des Krieges interessiert; nach dem Misslingen des Versuchs, die Regierung Assad zu stabilisieren, setzt es seit August 2011 nun auf eine Machtübernahme der Aufständischen um jeden Preis. Dabei kooperieren deutsche und türkische Stellen.[6] Beobachter wollen in der türkischen Syrien-Politik mittlerweile die Absicht erkennen, sich mit Unterstützung für die Aufständischen einen exklusiven Einfluss zumindest im nördlichen Syrien zu sichern, ganz im Sinne der neo-osmanischen Außenpolitik.[7]

„Geopolitische Zwangsjacke“

In regierungsnahen türkischen Medien ist inzwischen sogar offen vom Ende Syriens die Rede. So heißt es, die „künstliche geopolitische Zwangsjacke“, die Frankreich und Großbritannien nach dem Ersten Weltkrieg geschneidert hätten, erweise sich in diesen Tagen als „ungeeignet“. Die Grenzen der Türkei könnten sich schon bald „weitgehend von den heutigen unterscheiden“: Es sei durchaus denkbar, dass die kurdischsprachige Bevölkerung Syriens sowie des Irak nach dem zu erwartenden Zerfall der beiden Staaten jeweils „Gründungselemente“ einer „Neuen Türkei“ mit föderalistischen Grundzügen würden. Selbst ein Zusammenschluss der sunnitischen Regionen Syriens und des Irak zu einem zweiten neuen Staatsgebilde sei nicht auszuschließen; die Zeit für eine „Neuordnung“ des Nahen und Mittleren Ostens sei gekommen.[8]

Die ganze Bandbreite

Auf die zunehmenden außenpolitischen Aktivitäten derTürkei will Berlin künftig stärker Einfluss nehmen und hat deshalb den „Strategischen Dialog“ mit Ankara in die Wege geleitet. Laut einem Namensartikel der Außenminister der zwei Staaten soll er „die ganze Bandbreite“ der „bilateralen, europapolitischen und außenpolitischen Beziehungen abdecken“; von einer „neue(n) Ebene“ ist in dem Text die Rede.[9] Die Türkei nehme „eine wichtige Brückenfunktion in den islamischen Kulturkreis wahr“, erläutert Außenminister Westerwelle; hinsichtlich des Kriegs in Syrien stimme man sich schon jetzt „eng ab“. Ähnlich wie der deutsche EU-Kommissar Günter Oettinger bereits vor Monaten [10] mahnt allerdings inzwischen auch Westerwelle mit Blick auf die schrumpfende Bedeutung der EU für die Türkei zur Eile: „Wir müssen Acht geben, dass nicht der Tag kommt, an dem Europa ein größeres Interesse an der Türkei haben wird als die Türkei an Europa.“[11]

[1] Joint Declaration between the Federal Foreign Office of the Federal Republic of Germany and the Ministry of Foreign Affairs of the Republic of Turkey on the establishment of a Strategic Dialogue Mechanism
[2] s. dazu Die neuen Partner in Ankara (I), Die neuen Partner in Ankara (II) und Die größte Botschaft
[3] s. dazu Eine Brücke nach Asien
[4] s. dazu Freunde, kommt zu uns!
[5] Türkei knüpft in Libyen an alte Erfolge an; www.gtai. de 20.12.2012
[6] s. dazu Verdeckte Kriegspartei
[7] International Crisis Group: Blurring the Borders: Syrian Spillover Risks for Turkey, Europe Report No 225, 30.04.2013
[8] Bülent Keneş: The New Middle East; www.todayszaman.com 26.03.2013
[9] Guido Westerwelle, Ahmet Davutoğlu: Startschuss für deutsch-türkischen Strategischen Dialog; www.auswaertiges-amt.de 12.05.2013
[10] s. dazu Freunde, kommt zu uns!
[11] Außenminister Westerwelle: „Die Türkei hat eine beeindruckende Erfolgsgeschichte geschrieben“; www.auswaertiges-amt.de 11.05.2013