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Diskriminiert

Türkische Aleviten protestieren gegen Assimilationsprojekt. Demonstrant bei Protest gegen Polizeigewalt getötet

Erneut wurde in der Türkei ein Demonstrant durch Polizeigewalt getötet. Der 22jährige Ahmet Atakan wurde in der Nacht zum Dienstag in der südtürkischen Provinz Antakya von einer Tränengasgranate am Kopf getroffen. Atakan hatte an einer Demonstration gegen Polizeigewalt teilgenommen, bei der den fünf während der landesweiten Proteste gegen die islamisch-konservativen AKP-Regierung im Juni getöteten Demonstranten gedacht werden sollte. Seit Ende letzter Woche kommt es in verschiedenen Städten der Türkei wieder zu regierungskritischen Protesten.

So war es am Wochenende in Ankara zu Straßenschlachten zwischen der Polizei und Studenten der Technischen Universität des Mittleren Ostens (­ODTÜ) gekommen, die die Abholzung eines Waldgeländes auf dem Campus für den Bau einer Straße verhindern wollten. In mehreren türkischen Städten fanden seitdem Demonstrationen gegen Polizeigewalt statt. In einigen kurdischen Städten kam es gleichzeitig zu Protesten gegen die Zerstörung eines Friedhofs für gefallene Guerillakämpfer durch die Armee bei der Stadt Mardin.

In Ankara finden seit Tagen Auseinandersetzungen zwischen Angehörigen der alevitischen Religionsgemeinschaft und der Polizei statt, bei denen mehrere Demonstranten verletzt oder inhaftiert wurden. Auslöser der Proteste in der Gemeinde Tuzlucayir war am Sonntag die Einweihung eines Gebäudekomplexes, der sowohl eine Moschee als auch ein alevitisches Cem-Haus umfaßt. Das von der Regierung geförderte Projekt geht auf einen Vorschlag des einflußreichen Imam Fethullah Gülen zurück und soll offiziell Spannungen zwischen den Religionsgemeinschaften abbauen. Doch viele alevitische Anwohner sehen darin den Versuch der pantürkisch-sunnitischen Gülen-Gemeinde zur Assimilation der Aleviten. So hält Gülen die Aleviten für unbewußte Sunniten, die zurück zum wahren Glauben geführt werden müssen. Dagegen begreifen viele Aleviten ihren Glauben, der vorislamische Elemente mit der Verehrung von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten Mohammed, verbindet, als humanistische Philosophie.

Staatsnahe alevitische Verbände wie die CEM-Stiftung und Abgeordnete der von Aleviten unterstützten kemalistischen Republikanischen Volkspartei (CHP) stellten sich hinter das Moschee-Cem-Haus-Projekt. »Sowohl im alevitischen wie sunnitischen Glauben sind Liebe und Toleranz wichtig«, erklärte der CHP-Abgeordnete Erdogan Toprak. »Wir müssen uns gegen diejenigen vereinigen, die die Türkei teilen wollen.« Dagegen beklagte die prokurdische Partei für Frieden und Demokratie (BDP), die viele kurdische Aleviten hinter sich weiß, daß das Projekt auf die Spaltung der alevitischen Gemeinde ziele. Die BDP forderte statt dessen die Anerkennung der bestehenden Cem-Häuser als religiöse Orte. Aleviten, die rund ein Viertel der Bevölkerung ausmachen, werden in der Türkei systematisch diskriminiert.

In ihren Ausweisen werden sie als Muslime gekennzeichnet und ihre Kinder zur Teilnahme am sunnitischen Religionsunterricht gezwungen. Mehrfach kam es zu Pogromen wie 1993 in Sivas, wo ein faschistisch-islamistischer Mob einen Brandanschlag auf ein Hotel verübten, infoledessen Dutzende alevitische Künstler und Intellektuelle verbrannten. Zwar hat die Regierung kürzlich eine »alevitische Öffnung« verkündet, doch diese läuft weniger auf eine Anerkennung als auf eine staatliche Kontrolle der traditionell linken und laizistischen Parteien nahestehenden alevitischen Religionsgemeinschaft heraus. So sollen nach dem Willen der AKP alevitische Geistliche wie bereits die sunnitischen Imame vom Staat ausgebildet werden.

Daß Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan im Frühjahr die geplante dritte Bosporus-Brücke nach dem als Alevitenschlächter in die Geschichte eingegangenen Sultan Yavuz Selim I. benannt hat, verstärkt das Mißtrauen der Aleviten gegenüber der AKP.