Ein Zeichen gegen die Angst Gerti Wilford veröffentlicht Briefe ihrer Schwester Ingrid Schubert aus Stammheim

Am 12. November 1977 wurde Ingrid Schubert in ihrer Zelle in der Justizvollzugsanstalt Stadelheim in München tot aufgefunden, angeblich selbst erhängt. Aber wie bei den wenige Wochen zuvor, am 18. Oktober 1977 in Stuttgart-Stammheim gestorbenen RAF-Gründungsmitgliedern Andreas Baader, Jan Carl Raspe und Gudrun Ensslin blieben auch beim Tod von Ingrid Schubert viele Fragen offen. Anders jedoch als die drei in Stammheim gestorbenen RAFler ist Ingrid Schubert noch heute selbst in linken Kreisen kaum bekannt.

Daher ist es umso erfreulicher, dass die Edition Cimarron jetzt die Briefe veröffentlicht, die ihre Schwester Gerti Wilford zusammengestellt hat. Zunächst waren sie nur für einen kleineren Kreis von Freundinnen und Verwandten gedacht. Doch dann zeigten sich vor allem jüngere Leserinnen, die eigentlich überhaupt keinen Bezug mehr zu den 70er Jahren haben, besonders interessiert an der Lektüre der Briefe. Sie regten eine größere Aus­gabe an und wollten auch eine Übersetzung ins Englische in die Wege leiten.

In der Einleitung wird angesprochen, wie die politische Entwicklung von Ingrid Schubert auf ihre nächste Verwandtschaft wirkte. »Für die Familie war die Entscheidung unserer Schwester, sich dieser Bewegung anzuschließen, ein schwerer Schlag, besonders für unsere Eltern und Familienmitglieder … Sie wußte das und sprach es auch an als unausbleibliche Folge ihrer Entscheidung, was weder den Schmerz noch die ständige Angst minderte, die alle in der Familie betraf.« Mit der Veröffentlichung der Briefe soll nach fast 50 Jahren nun auch ein Zeichen gegen diese Angst gesetzt werden.

Die Dokumentation wird ergänzt durch Fotos, persönliche Erinnerungen und Berichte von Freundinnen und Genossinnen wie Brigitte Asdonk, Brigitte Mohnhaupt und Irmgard Möller. Sie ermöglichen es, den Leser*innen den Menschen Ingrid Schubert näherzubringen.

Ingrid Schubert hatte ihr medizinisches Examen mit Gut absolviert. Im Osterurlaub habe sie dann der Schwester angedeutet, sie könne nicht gleich wie geplant in einer Praxis arbeiten. Sie habe erst noch Dinge zu erledigen … Wenige Wochen später wurde sie in Berlin verhaftet.

Im Klappentext des Buches findet sich ein Zitat von Ingrid Schubert, das einen Eindruck von der revolutionären Ungeduld vermittelt, die damals große Teile vor allem der akademischen Linken erfasst hatte, die nicht den Marsch durch die Institutionen antreten wollten: »Nichts ging vorwärts, nichts änderte sich, die Systeme der Unterdrückung wurden immer deutlicher, ausgehend von der Gesellschaft, dem Staat, der Herrschaftssysteme, der Mächte. Es erdrückte einen, und man selbst saß immer noch und rieb sich seinen dicken Bauch und applaudierte kräftig denen, die es schon lange begriffen hatten und auf internationaler Ebene den Kampf gegen die Unterdrückung aller Minderheiten aufgenommen hatten. Und irgendwie begriff ich, dass ich konsequent zu sein hatte.«

Auf dieses Thema, die eigene Konsequenz und die Weigerung, sich auf einen scheinbar vorgezeichneten Lebensweg als Ärztin einzulassen, kam Ingrid Schubert immer wieder in ihren Briefen zu sprechen. Im letzten hier dokumentierten Schreiben vom 4. November 1977 formuliert sie, knapp drei Wochen nach der Todesnacht von Stammheim: »Die, die ich am meisten liebe, sind tot – sie hatten es schwer mit mir und ich mache es mir schwer. Mal sehen, vielleicht kann ich das einmal aufschreiben, wenn ich wieder reden kann.« Eine Woche später war sie tot.

Die Veröffentlichung der Briefe kann gewiss dazu beitragen, dass ihr Name, ihre Träume, ihre Hoffnungen und Enttäuschungen nicht verschwinden, für ewig vergessen werden, dass sie nicht in den Akten von Justiz und Polizei untergeht. Auch die Geschichte der RAF ist trotz zahlreicher Publikationen, die bereits erschienen sind, noch längst nicht in Gänze aufgearbeitet. Einen Mosaikstein für die notwendige umfassende Bewältigung des Themas – man kann auch Trauma sagen – bietet dankenswerterweise dieses Buch.

Ingrid Schubert: Briefe aus dem Knast 1970–1977. Hg. v. Gerti Wilford. Edition Cimarron, 254 S., br., 12 €.

PETER NOWAK ND 17.11,22