Erklärung von Özgül Emre am 48. Hauptverhandlungstag (29.08.2024)

Erklärung von Özgül Emre am 48. Hauptverhandlungstag (29.08. 2024) im sog. Düsseldorfer Kommunistenprozess (DHKP-C-Prozess) vor dem 7. Strafsenat (Staatsschutzsenat) des Oberlandesgerichts Düsseldorf (OLG)

(Ergänzende Begründung des Beweisantrags auf Verlesung des Sachverständigengutachtens von Frau Prof. Dr. Sebnem Oguz (emeritierte Hochschullehrerin der Universität Ankara) mit dem Titel,„Der neue Faschismus als widersprüchlicher Prozess“, zu den politischen Entwicklungen in der Türkei unter der Regierungszeit der AKP 2002 bis heute, sowie über die aktuelle Verfasstheit des türkischen Staates1)

Az.: III-7 StS 1/23

ES SIND DIE URSACHEN, DIE DIE ERGEBNISSE HERVORBRINGEN!

Selbst der Sachverständige stellte fest, dass es in der Türkei keine Demokratie gibt, dass nicht einmal das bestehende Recht mehr gültig ist und, dass nicht einmal legale Wege und Wahlen eine Hoffnung darstellen. Er sagte, dass es keine Gerechtigkeit und keine Menschenrechte gibt, dass sogar die Wahlen manipuliert und ihre Ergebnisse missachtet werden, dass Zwangsverwalterinnen ernannt werden, um die Gewählten zu ersetzen, dass gewählte Bürgermeisterinnen verhaftet werden, kurzum, dass es sich um einen „Ein-Mann-Staat“ handelt.

Der Sachverständige hat die gegenwärtige Situation in einigen Aspekten erläutert. Allerdings war dies vor allem in Bezug auf die wirtschaftliche Dimension nicht ausreichend. Es sollte jedoch nicht vergessen werden, dass die Ursachen für das Ergebnis entscheidend sind; eine Beurteilung der Ergebnisse allein, ohne auf die Ursachen einzugehen, kann irreführend sein und dient nicht der Lösung. Die wirtschaftliche Dimension ist ebenfalls wichtig und entscheidend für die Aufdeckung der Ursachen, die zu diesem Ergebnis geführt haben.

In der Türkei gibt es eine zügellose Ausbeutung. Sie ist sogar so zügellos, dass die Türkei zum Beispiel das Land der Arbeiterinnen und Lohnabhängigen ist, die am härtesten arbeiten, aber die niedrigsten Löhne in Europa erhalten. Unter den Bedingungen von Kinderarbeit und Prekariat werden täglich mindestens fünf Arbeiterinnen ermordet, es gibt zahllose Massaker an Arbeiter*innen, wie das Massaker an 301 Bergarbeitern in Soma2, und selbst unser Tod wird mit den Worten „das lag in der Natur der Sache“ und „sie sind gut gestorben“ verhöhnt; die Türkei ist ein Land, in dem selbst unser Tod von dem Staat und der Regierung normalisiert wird.

Die Arbeiter*innen und Lohnabhängigen, denen jegliches Recht auf gewerkschaftliche Organisierung und Streiks genommen wurde, stehen weltweit an dritter Stelle, was die niedrigsten Löhne angeht. So sind sie beispielsweise so dreist, in einer Erklärung des Kindermörders und faschistischen Diktators Recep Tayyip Erdoğan zu erklären, dass sie den „Ausnahmezustand“ im Interesse der Kapitalisten ausgerufen haben.

Er erklärte vor ausländischen und türkischen Kapitalisten: „Wir intervenieren in die Fabriken unverzüglich mit den Notdekreten des Ausnahmezustands, wenn wir die Gefahr eines Streiks erkennen.“

Lassen wir einmal die landlosen Bauern in der Landwirtschaft beiseite. Die Landwirte bilden einen weiteren bemerkenswerten Aspekt dieser Ausbeutung. Die Landwirtschaft ist völlig vom Ausland abhängig geworden… Es ist die faschistische AKP-Regierung, die von dem Slogan „die Bauern sind die Herren der Nation“ dazu übergegangen ist, den Bauern und Landwirten zu sagen: „Nimm deine Mutter und verschwinde“.

Die Bauern schließen nun das Jahr mit Schulden ab, ganz zu schweigen von der Bezahlung ihrer Ausgaben. Die Bauern und die Landwirtschaft sind am Ende. Vom Saatgut bis zur Liquidierung der Bauern; wir sind nun gezwungen, sogar das Brot, das wir essen, zu kaufen.

Während Arbeiter*innen, Bauern, Kleingewerbetreibende, kurz gesagt, alle Teile des Volkes die Armutsgrenze längst hinter sich gelassen haben und nun an der Hungergrenze leben müssen, sind zu den von Magazinen wie Forbes angekündigten Reichen in unserem Land Neue hinzugekommen, und die bestehenden Reichen sind parallel zum Hunger des Volkes noch reicher geworden. Wenn wir eine Million Menschen im Land ausklammern, sind die übrigen achtzig Millionen gezwungen, an der Hunger- beziehungsweise Armutsgrenze zu leben. Die Reichen bereichern sich mit dem, was sie dem Volk stehlen; der schreckliche Reichtum des faschistischen Mörders Recep Tayyip Erdoğan, der an der Macht ist, ist nur der sichtbare Teil dieser Situation.

Wenn Unterdrückung und Gewalt ein wichtiger Grund dafür sind, dass die Völker der Türkei heute vermehrt vor den Toren Deutschlands stehen, so ist ein weiterer wichtiger Grund die wirtschaftliche Situation, die Tatsache also, dass es durch die Schrecken der Ausbeutung unmöglich geworden ist, in unserem schönen Land zu leben. Aus diesem Grund hat nicht nur die physische, sondern auch die wirtschaftliche, gesellschaftliche und kulturelle Gewalt der AKP von Journalistinnen bis hin zu Lehrerinnen, von Krankenpflegerinnen bis hin zu Ärztinnen viele Menschen dazu gezwungen, in Ländern wie Deutschland zu arbeiten.

Die Wirtschaftskrise verstärkt die politische Krise und die politische Krise verstärkt wiederum die Wirtschaftskrise.

Während die Wirtschaftskrise, d.h. die Freiheit der Ausbeutung, die politische Krise verschärft, hat der Faschismus keine andere Wahl, als parallel dazu seine Unterdrückung und Gewalt zu steigern. Als sie gesehen haben, wie die unterdrückten Völker der Türkei, die sie beim Gezi- bzw. Juni-Aufstand3 als „Marodeurinnen“ bezeichneten, von Kurdinnen und Türkinnen, über Araberinnen und Lazinnen bis hin zu Alevitinnen und Sunnit*innen, Menschen aller Sprachen und Religionen, also das Volk sich zusammenschließen und auf die Straße gehen und trotz all seiner Angst Widerstand leisten kann, hat der AKP-Faschismus parallel zum Ausmaß seiner Angst, seine Angriffe noch verstärkt, ist er noch massiver und rücksichtsloser geworden.

Selbst die Verfassung des Junta-Regimes war für sie zu eng geworden. Sie sind sogar so weit gegangen, dass sie die Richter*innen am Verfassungsgericht der „Unterstützung des Terrorismus“ bezichtigen und alle Gesetze, einschließlich der Verfassung, verletzen und ignorieren. Wenn das nicht gelingt, regieren sie das Land unter Umgehung der Gesetze, indem sie Sonderdekrete mit Gesetzeskraft erlassen. Die Gewaltenteilung hat selbst ihre dem inszenierten „Demokratietheater“ entsprechende Funktion verloren und wird nicht einmal formell ernst genommen. Es gibt eine Oligarchie, die sich rücksichtslos über die Gesetze hinwegsetzt, die sie sich selbst gegeben hat, und dies auch noch offen verkündet, und eine faschistische Regierung, die den Imperialismus sättigt.

Wie der Sachverständige stellenweise bemerkt hat, ist der AKP-Faschismus ein Ergebnis einer Entwicklung. Natürlich hat die AKP-Regierung, an deren Spitze der Kindermörder und faschistische Diktator Tayyip steht, größere und neue Beiträge zur Staatsstruktur geleistet. Nach ihren eigenen Worten haben sie das Vermögen des Volkes wie „Väter“ verkauft; sie verteidigen inzwischen offen und schamlos die hemmungslose Ausbeutung und die großen Massaker. Sie haben es nicht einmal für nötig befunden, diese Situation mit dem so genannten bestehenden Recht in Einklang zu bringen, nicht einmal der Form nach. Selbst eine faschistische Militärjunta wie die des 12. September und das Verschwindenlassen, die Tode und die Folter in den 1990er Jahren sind nichts im Vergleich zu dem, was heute geschieht. Aber wer auch immer innerhalb dieser Ordnung an die Macht kommt, wird Teil der faschistischen Staatsstruktur sein. Es sind die kollaborierende Oligarchie und der Imperialismus, die die Ausbeutung hervorbringen. Der Putschversuch der FETÖ-Mitglieder auf Befehl der Imperialist*innen, die den Juni-Aufstand noch mehr fürchteten als die AKP, ist ein einfaches Beispiel dafür. Obwohl sie es vorzogen, mit dem FETÖ-Putsch zumindest die AKP-Regierung zu stürzen und die Reaktionen des Volkes auf diese Weise zu neutralisieren, anstatt die Volksrevolution zuzulassen, ging diese Rechnung nicht auf und der Imperialismus setzte seinen Weg mit der AKP fort, die sein Kapital um 10 zu 1 vergrößerte. Wie sonst könnten die Feto-Leute, die in der Türkei einen Putschversuch gegen das Parlament unternommen und den Tod unzähliger Menschen verursacht haben, in Deutschland Aufenthaltsgenehmigungen und Pässe erhalten und ihr Leben weiterführen?

Schließlich kann es ohne Unabhängigkeit auch keine Demokratie für das Volk geben. Der Staat, der ein weiteres Werkzeug des Imperialismus und der mit ihm kollaborierenden Oligarchie ist, wird seine Unterdrückung und Folter angesichts der zügellosen Ausbeutung noch verstärken. Die Vervielfachung der Zahl der Gefängnisse ist ein Beispiel dafür. Die AKP, die das gesamte Vermögen des Volkes veräußert hat, baut stattdessen Gefängnisse. Die AKP, die dem Imperialismus billige Arbeitskräfte, Rohstoffe und Absatzmärkte bietet, hat unser Land in einen Zufluchtsort für Drogenbarone und weltweit gesuchte Bandenchefs und in eine unerträgliche Hölle für die Völker der Türkei verwandelt.

Von der Halbkolonie zur Neokolonie

Der Zweite Verteilungskrieg

Das Dritte Krisenzeitalter des Imperialismus.

Für den amerikanischen und europäischen Imperialismus waren Länder wie Algerien und Vietnam besonders lehrreich. Der Kolonialismus rief in den kolonisierten Ländern, die offen mit Streitkräften und Soldatenstiefeln besetzt waren, einen großen Widerstand hervor. Die technisch und waffenmäßig unterlegenen Völker wehrten sich gegen diese offenen Besatzungen mit ihrer Legitimität und ihrem Zorn. Während sich zum Beispiel Vietnam für die Imperialisten in einen unüberwindbaren Sumpf verwandelte, fanden die Völker der Welt große Liebe und Unterstützung für die Völker, die sich gegen den imperialistischen Krieg wehrten. Die imperialistischen Länder wurden mit großer Wut und Reaktion konfrontiert, vor allem von ihren eigenen Bevölkerungen. Zusammen mit der Entlarvung der imperialistischen Politik entwickelten und verbreiteten sich in den imperialistischen Ländern linke und sozialistische Ideen weiter. Mit anderen Worten, es brachte gegen Tod, Folter und alle Arten von Unterdrückung den politischen und historischen Sieg der unterdrückten Völker der Welt, deren Unabhängigkeit mit Füßen getreten wurde und deren Ressourcen durch offene Besatzungen, vom Himmel regnendes Napalm und Soldatenstiefel geplündert und ausgebeutet wurden.

Anstelle dieser Methode, die die Imperialistinnen teuer zu stehen kam, indem sie nicht nur den Widerstand in den besetzten Ländern, sondern auch das antiimperialistische Bewusstsein in ihren eigenen Ländern stärkte, mussten die Imperialistinnen neue Methoden finden…. Nicht mit Truppen, sondern mit Hilfspaketen, Milchpulver, internationalen Abkommen…..

Nach diesen Erfahrungen des Imperialismus wurde unser Land durch kollaboratorische Regierungen zu einer Neokolonie.

In was für einem Land leben wir?

In was für einem Land kämpfen wir für Unabhängigkeit und Demokratie?

Die Türkei ist ein Land, das eine Neokolonie darstellt, die nicht unabhängig ist und nicht einmal über eine bürgerliche Demokratie verfügt.

Zwar haben wir nach dem Befreiungskrieg in einem gemeinsamen Kampf unsere Unabhängigkeit erlangt, aber wir verfügten über keinen Kapitalismus, der sich mit seiner eigenen inneren Dynamik entwickeln konnte.

Auch wenn wir unsere Unabhängigkeit erlangt haben, war es nicht einmal möglich, wie in anderen europäischen Ländern unsere bürgerlich-demokratische Revolution durchzuführen. Die Bourgeoisie, die während des Befreiungskrieges eine fortschrittliche Mission übernommen hatte, entpuppte sich in der Nachkriegszeit, ihrem Klassencharakter entsprechend, als Tyrann, der nicht mit anderen Kräften zusammenarbeitete. Auf die Massaker an Aleviten, Kurden, Griechen und Armeniern, auf die Angriffe gegen das Volk, die Kommunisten und Sozialisten werde ich weiter unten eingehen.

Trotz der großen Unterstützung, die das sozialistische Russland der Türkei im Befreiungskrieg zuteilwerden ließ, hat das Kleinbürgertum aufgrund seines Klassencharakters den Kurs unseres Landes auf den Westen, auf den westlichen Kapitalismus ausgerichtet!

Man versuchte den Kapitalismus, der sich nicht aus seiner eigenen Dynamik heraus entwickelte, durch staatliche Interventionen zu fördern. So war es beispielsweise der Staat selbst, der die ersten Fabriken und die ersten Kooperativen gegründet hat. Die Türkei wurde auf der Grundlage der Montageindustrie und nicht der Schwerindustrie aufgebaut.

Da sich der Kapitalismus nicht mit seiner eigenen inneren Dynamik entwickelt hat, ist in unserem Land ein entstellter Kapitalismus entstanden. Dieser entstellte Kapitalismus hat zu einer entstellten Gestaltung geführt, die von der Produktion über die Kultur und die Kunst bis hin zum Inneren der Häuser und der Individuen reicht.

Die internationalen Abkommen der 1950er Jahre haben dem Imperialismus Tür und Tor geöffnet. Wir gaben unsere Unabhängigkeit, die wir im Befreiungskrieg errungen hatten, Tag für Tag mit internationalen Abkommen auf. Unsere Unabhängigkeit, die man uns nicht mit Waffengewalt nehmen konnte, wurde den Imperialisten, insbesondere den USA, auf einem goldenen Tablett präsentiert. Waren wir unabhängig, weil unsere Fahne das Symbol der Unabhängigkeit war und wir das Parlament im Rahmen des „Demokratietheaters“ eröffneten, weil zwischendurch Wahlen abgehalten wurden, während uns die Polizei mit Knüppeln auf den Kopf schlug und Soldaten ihre Gewehre auf uns richteten?

Wir standen unter der faschistischen Herrschaft der Oligarchie und ihrem Repressionsapparat, dem Staat. Von der Milch, die wir tranken, über die Ernte, die wir einbrachten, bis hin zum Atem, den wir nahmen… von der Musik, die wir hörten, bis zu den Filmen, die wir sahen.

Vom klassischen Faschismus zum Faschismus kolonialen Typs

Der Faschismus kolonialen Typs ist im Gegensatz zum klassischen Faschismus keine Bewegung von unten, sondern ein Faschismus, der von oben nach unten durch den Staat aufgebaut wird.

Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Monopolbourgeoisie unseres Landes nicht die Kraft hatte, alleine an die Macht zu kommen, und deshalb ein Bündnis mit einigen vorkapitalistischen Elementen, den Großgrundbesitzern und Geldverleihern, eingehen musste. Gemeinsam bildeten sie die Struktur, die wir Oligarchie nennen.

Mit anderen Worten, er unterscheidet sich vom klassischen Faschismus nicht nur dadurch, dass er durch den Staat von oben nach unten aufgebaut wird, sondern auch durch seinen Klassencharakter. Die herrschenden Klassen befinden sich aufgrund der Tatsache, dass unser Land ein neokoloniales Land ist, in einer permanenten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Krise. Aufgrund dieser permanenten Krise, die wir „nationale Krise“ nennen, greifen die Herrschenden zum Faschismus, um ihre Ausbeutung aufrechtzuerhalten und ihre Macht zu vergrößern.

Nationalismus und Chauvinismus sind Teil des faschistischen Systems und dienen dem Imperialismus. Der Faschismus schürt den Chauvinismus, um die Völker zu spalten, sie zu neutralisieren, indem er sie gegeneinander feindlich stimmt.

Der Faschismus stützt sich auf die verdorbene und individualistische Kultur des Imperialismus. Der Faschismus leugnet die Existenz, die Sprache und die Kultur der Völker verschiedener Nationalitäten in unserem Land und versucht, indem er diese assimiliert, die türkische Nation zu schaffen.

Wie in allen neokolonialen Ländern hat der Faschismus in der Türkei zivil-faschistische Bewegungen organisiert, weil ihm die Klassenbasis fehlt. Die nationalistische zivil-faschistische Bewegung MHP ist als Teil des Staates organisiert. Der oligarchische Staat will nicht in alle Arten von Kämpfen und Widerständen intervenieren, um selbst Massaker und Provokationen durchzuführen. Deshalb bedient er sich in diesen Situationen der zivil-faschistischen Bewegung. Wenn er damit nicht weiterkommt, greift er auf die Demagogie des Konfliktes zwischen „Rechten“ und „Linken“ zurück. Und der Staat verschleiert auf diese Weise die Tatsache, dass diese Massaker vom ihm selbst verübt wurden. Der Nationalismus ist eine Idee, die Nationen gegeneinander aufhetzt, indem sie behauptet, sie seien anderen Nationen überlegen. Die Bourgeoisie benutzt diese Idee, um die Völker zu spalten. Patriotismus dagegen ist der Kampf gegen den Imperialismus und die Oligarchie für die Unabhängigkeit des eigenen Landes und für die Demokratie.

In unserem Land gibt es keine offene, sondern eine verdeckte imperialistische Besatzung. In neokolonialen Verhältnissen, im Gegensatz zu offenen Besatzungen, kann die erwartete Opposition nicht sofort entstehen.

Mit der Ausweitung der kapitalistischen Produktion entschärft sich der Widerspruch zwischen den arbeitenden Klassen und der herrschenden Ordnung und es entsteht ein relativer Wohlstand.

Sie konnten in den 1950er Jahren nicht das Parlament liquidieren, wie Hitler es getan hatte. Es gibt Gewerkschaften, wenn auch nur nominell. Es ist eine Form, in der die demokratischen Mechanismen nicht abgeschafft, aber kastriert werden. Dies stellt die Grundform des Faschismus nach dem Zweiten Weltkrieg dar.

Der Staat ist nun viel stärker zentralisiert und militarisiert. Der Staat, der durch imperialistische Abkommen und Bündnisse zu einem viel mächtigeren Apparat geworden ist, verhindert die Reaktionen des Volks in Form von Unterdrückung, Gewalt, Massakern und Folter physisch.

Die aus dem Osmanischen Reich übernommenen Vorstellungen vom allmächtigen Staat und vom Vater Staat stärken den zentralisierten Apparat und führen zu seiner ideologischen Akzeptanz.

Mit seinem neuen ideologischen und Repressionsapparat unterdrückt der Staat Tendenzen zum Widerstand. Zuckerbrot und Peitsche bzw. Zwang und Zustimmung schaffen eine künstliche Mauer vor dem Konflikt, der zwischen den Unterdrücker*innen und den Unterdrückten entstehen sollte.

Die Verbrechen, die der Imperialismus und Faschismus in der Türkei begangen haben, brauchen wir nicht zu erörtern und lange auf diese einzugehen.

Die Art und Weise, wie der Faschismus die Wahrnehmung von Religion und Nationalität ausnutzt, hat sich im Leben mit all seiner Gewalt niedergeschlagen. Es ist meine Pflicht, eine natürliche Glaubensführerin unter den Alevit*innen zu sein, gegen Glaubensvorstellungen zu kämpfen, die die Existenz des Alevitentums verleugnen, mein Volk angesichts von Massakern zu verteidigen, die Bestrafung der Mörder zu fordern, die uns nach dem Leben trachten, Gerechtigkeit zu verlangen, zu fordern, dass das Volk seinen Glauben leben kann.

Als Kurdin ist es meine Pflicht, das Recht auf Selbstbestimmung zu fordern, mit meiner Sprache und Kultur leben zu wollen.

Schließlich gehört dieses Land uns.

Ob Sie diese historische, politische, wirtschaftliche, kulturelle und soziale Ordnung der Ausbeutung nun totalitär, autoritär oder letztendlich diktatorisch nennen wollen, bei uns und in neokolonialen Ländern wie dem unseren nennen wir diese Faschismus.

Die Wahrheit lässt sich nicht durch die Bezeichnungen ändern, die nicht einmal wissenschaftlich fundiert sind und die Sie nur verwenden, weil sie Ihren eigenen Interessen entsprechen.

Hören Sie auf zu sagen, was in unserem Land ist und was nicht ist. Hören Sie auf, die Menschen in Ländern wie dem unseren für die internationalen wirtschaftlichen und politischen Interessen der amerikanischen und europäischen Imperialist*innen zu schmähen.

Wir, die Völker Anatoliens, haben sowohl die nötige Terminologie als auch die Tradition um zu wissen, was in unserem Land gilt und was nicht.

Wir, die in der Türkei lebenden Völker, die Kinder, Intellektuellen, Künstlerinnen, Schriftstellerinnen, Journalistinnen, Arbeiterinnen, Ärztinnen, Ingenieurinnen, Architekt*innen, wir nennen es Faschismus.

Wir, die wir diese Gräueltaten in jenem Land erfahren, die wir diesen Schmerz erleiden…, wir, die wir Hunger und Arbeitslosigkeit erleben, …wir nennen es Faschismus.

Während Sie in Ihren gemütlichen Häusern, mit Ihrer Arbeit und vollem Magen darüber nachdenken, wohin Sie dieses Jahr in den Urlaub fahren sollen, können Sie natürlich Analysen und wissenschaftliche Aussagen über das, was wir erleben, machen. Und Sie können dabei nicht nur falsche, sondern auch richtige Dinge sagen.

Aber letztlich entscheiden wir, die Völker jenes Landes, was es ist oder nicht ist, wie es heißt oder nicht heißt. Niemand kennt den Schmerz in unserem Körper oder den Namen des Hungers in unserem Magen besser als wir, und niemand hat das Recht, unsere Vernunft zu leugnen.

Das ist nichts als offener Rassismus. Hören Sie auf, uns, unsere Völker, zu erniedrigen.

Wir sehen, welch große „Freiheit“ und „Demokratie“ Sie in Afghanistan aufgebaut haben, das Sie in ein Blutbad verwandelt haben, um die sogenannte „Freiheit und Demokratie“ zu bringen, denken wir an Irak, Syrien, Gaza…

Die Völker der Welt werden mit Waffen US-amerikanischer und europäischer Herkunft massakriert.

Von Ihrer Politik erwarten wir ohnehin keine Freiheit und Demokratie. Wie Diogenes zu Alexander dem Großen sagte, als dieser ihn fragte, ob er ihm einen Gefallen tun könne. „Geh mir nur ein wenig aus der Sonne!“ Das würde schon reichen.

Wir, die Völker der Welt, können uns nur auf uns selbst stützen. Die sogenannte Freiheit, die Sie mit Waffen, Ideologien, euren Apparaten zu bringen versuchen, möge Ihnen gehören… Sie können Ihre unter großen, schönen Worten versteckten Monopole, die sie in unser Land zur Ausbeutung bringen, für sich behalten. Sogar Recep Tayyip Erdoğan, der Liebling der Staatsanwaltschaft und die Politik, die er vertritt, die faschistischen staatlichen Behörden, die mordende und folternde Polizei, die Grauen Wölfe, der IS und alle Reaktionäre mögen samt ihres Anhangs Ihnen gehören.

Wir, die Völker der Türkei, die produzieren und schaffen und die in jenem Land leben, die unterdrückten Völker der Welt, alle Menschen, die ein menschenwürdiges Leben zugunsten des Volkes verteidigen, wir werden nicht nur ein neues Land, sondern eine neue Welt aufbauen.

1 https://dhkpcverfahren2023129b.wordpress.com/2024/09/04/verlesung-gutachten-sebnem-oguz/ und https://dhkpcverfahren2023129b.wordpress.com/2024/09/04/ubersetzung-gutachten-sebnem-oguz-aus-der-turkischen-in-die-deutsche-sprache/

2 Anmerkung Website: Das Grubenunglück von Soma ereignete sich am 13. Mai 2014 in einem der beiden Braunkohlebergwerke Eynez in Soma in der westlichen Provinz Manisa der Türkei. Nach offiziellen Zahlen starben 301 Bergleute, 486 überlebten.

3 Anmerkung Website: Als Gezi-Proteste, werden Demonstrationen und Aktionen in der Türkei gegen die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan zusammengefasst. Die Protestwelle begann am 28. Mai 2013 in Istanbul mit Demonstrationen gegen ein geplantes Bauprojekt auf dem Gelände des Gezi-Parks, der unmittelbar an den Taksim-Platz angrenzt.