Am Freitag dem 18.01.2013 gegen 4:00 Uhr morgens wurden knapp 20 demokratische Vereine, darunter das Anwaltsbüro des Volkes (HHB), der Progressive JuristInnenverband (CHD), das Idil Kulturzentrum der Grup Yorum, das Büro der sozialistischen Wochenzeitung Yürüyüs, der Verein der Angehörigen von Gefangenen TAYAD sowie Wohnungen von AnwältInnen in 7 türkischen Städten zeitgleich von Hundertschaften der Polizei teils unter Hubschraubereinsatz gestürmt.
Türen wurden aufgebrochen, das gesamte Inventar in den Vereins- und Arbeitsräumen verwüstet und beschlagnahmt. Das Studio der Grup Yorum wurde völlig unbrauchbar gemacht, es wurden sogar Fingerabdrücke von Musikinstrumenten genommen. Digitales Material mit Aufnahmen für das nächste Album der Band wurde beschlagnahmt. Alle anwesenden Grup Yorum-Mitglieder und MitarbeiterInnen des Kulturzentrums wurden festgenommen.
Die zum Zeitpunkt der Stürmung in den Büros und Wohnungen anwesenden Mitglieder des Anwaltsbüros des Volkes, des Progressiven JuristInnenverbands wurden festgenommen und Haftbefehle gegen vorübergehend im Ausland befindliche AnwältInnen erlassen. Diese werden bei ihrer Wiedereinreise in die Türkei ebenfalls festgenommen. Der Vorsitzende des Progressiven Anwaltsverbands Ra. Selcuk Kozagacli und die Anwältin des Anwaltsbüros des Volkes Oya Aslan befinden sich derzeit noch in Beirut und haben heute zum zweiten Mal eine schriftliche Erklärung abgegeben, in der sie die rechtswidrigen Festnahmen und Durchsuchungen verurteilen und ihre Identität als demokratische AnwältInnen verteidigen.
Er gab darin gute Anhaltspunkte dafür, warum gerade diese Anwaltsvereine unter staatlichem Beschuss stehen:
„-weil wir die AnwältInnen der Familien Dutzender unschuldiger Menschen sind, die ihr jährlich ermordet, weil „sie eurem Befehl Stehenzubleiben nicht Folge leisteten“
-weil wir die AnwältInnen der ArbeiterInnen sind, deren Gewerkschaften ihr stürmt und die ihr auf der Straße niederknüppelt, weil sie von ihren Vorgesetzten ihre Löhne fordern.
-weil wir die AnwältInnen der SchülerInnen sind, denen ihr aufgrund von Disziplinarverfahren das Recht auf Bildung unmöglich gemacht habt.
-weil wir die AnwältInnen des kurdischen Volkes sind, das ihr im Blut ertränkt habt, der kurdischen PolitikerInnen, denen ihr den Mund verbietet und der kurdischen AnwältInnen, denen ihr die Arbeit unmöglich gemacht habt.
– weil wir die AnwältInnen der Menschen sind, die ihr in den Polizeiwachen und in den Gefängnissen verprügelt, denen ihr körperliche Behinderungen zufügt und die ihr ermordet.
– weil wir die AnwältInnen bei Umweltprozessen für dieses schöne Land sind, das ihr mit HES-Projekten, mit zyanidverseuchten Goldminen, mit riesigen Zementfabriken, Nuklearzentralen zerstört.
– weil wir die AnwältInnen der armen Bevölkerung sind, deren Häuser ihr für mehr Profit im Zuge der Städtischen Umwandlung abgerissen und die ihr von ihrem Heimatort vertrieben habt.
– weil wir die AnwältInnen der religiösen und ethnischen Minderheiten, der Opfer und Unterdrückten sind, die ihr, wie heute vor 6 Jahren HRANT DINK ermorden lassen und deren Verantwortliche ihr freigelassen habt.
– Wir können die Personen, die den bewaffneten Aggressoren die Grenzen öffnen, das syrische Volk ermorden lassen, es ausrauben und vergewaltigen lassen, sowie deren Behüter anhand von Dokumenten und Indizien aufdecken. Deshalb sind wir mittlerweile auch AnwältInnen des syrischen Volkes.
– Wir sind die AnwältInnen des Volkes“
Mindestens 85 Personen, darunter RechtsanwältInnen, LehrerInnen, StudentInnen, Grup Yorum- Mitglieder befinden sich in den Händen der „Anti-Terrorpolizei“, die für ihre Folter an Oppositionellen regelmäßig für Schlagzeilen sorgt.
Wie immer versuchen die Behörden ihre rechtswidrige, an Junta-Methoden erinnernde Handlung mit dem Kampf gegen den Terror zu legitimieren. Sowohl die MusikerInnen als auch die AnwältInnen sollen Kuriertätigkeiten durchgeführt haben, Verbindungen zur revolutionären Organisation DHKP-C haben.
Mit diese haltlosen Anschuldigungen, die den bürgerlichen Medien seit Jahrzehnten von der Konterguerilla diktiert werden, wird die Repressionsmaschinerie in Gang gesetzt und die Gesetze verlieren ihre Gültigkeit.
Die Arbeitsplätze und Wohnungen von 16 AnwältInnen wurden, ohne auf den Staatsanwalt und einen Vertreter der Anwaltskammer zu warten gestürmt und durchsucht, nachdem die Türen aufgebrochen wurden.
Neben den AnwältInnen des CHD begab sich heute Mittag auch die Volksfront vor das Istanbuler Polizeipräsidium, um einen Sitzstreik abzuhalten und gegen den Angriff zu protestieren.
Erneut wurde hier rohe Gewalt gegen die DemonstrantInnen eingesetzt. Betroffene berichten von Verbrennungen auf der Haut infolge der Gasbomben. Zudem wurden Gas-Wassergemische in Wasserwerfern eingesetzt.
Am heutigen Protest vor dem Istanbuler Polizeipräsidium wollten auch die MusikerInnen Pinar Aydinlar, Niyazi Koyuncu und der Filmregisseur Ezel Akay teilnehmen, doch der Protest wurde gleich zu Beginn von Wasserwerfern und Gasbomben erstickt.
Hüsnü Yildiz wurde infolge des Angriffs mit den Wasserwerfern schwer am Auge verletzt. Er wurde vom Gas so schwer beeinträchtigt, dass er kaum Luft bekam. Außerdem wurde er weiterhin mit den Wasserwerfern attackiert, obwohl er schon am Boden lag und während andere Personen versuchten, ihn in Sicherheit zu bringen.
Er wurde in die Medizinische Fakultät Capa verbracht und sein Zustand ist kritisch. Hüsnü Yildiz ist einer der Darsteller des politischen Kinofilms unter der Leitung von Grup Yorum Typ-F- Der Film, der den Alltag in den Isolationszellen des Typs F wiederspiegelt. Im Jahr 2011 kämpfte er mit einem Todesfasten für die Aushändigung des Leichnams seines 1997 ermordeten Bruders, der in einem Massengrab verscharrt worden war. Sein Widerstand führte am 66. Tag des Todesfastens zum Sieg.
Bei diesem schweren Angriff vor dem Polizeipräsidium soll es heute ebenfalls zu Festnahmen gekommen sein. Die genaue Zahl ist derzeit nicht bekannt. Allein in Istanbul wird aber von etwa 67 Festnahmen ausgegangen.
Die Polizei verhindert jegliche Solidaritätskundgebung vor dem Polizeipräsidium und antwortet mit Gewalt. Nach dem Angriff sperrte eine Protestgruppe die Akdeniz Straße oberhalb des Polizeizentrums und rief die Parolen „Foltern bedeutet Würdelosigkeit“ und „Die Festgenommenen müssen freigelassen werden“.
Bei einem Telefonat mit einer Vertreterin vom Gefangenenangehörigenverein TAYAD konnte in Erfahrung gebracht werden, dass auch ihr Verein gestern früh gegen 4.00 Uhr von Sondereinheiten mit Langlaufgewehren gestürmt wurde. Vorübergehend hatte man auch hier zwei Personen festgenommen, diese aber gestern Abend wieder freigelassen.
Von der Band Grup Yorum befinden sich derzeit alle Mitglieder, abgesehen von zweien, die ohnehin schon in Haft waren, im Polizeigewahrsam.
Es wurde sogar von Folter an den Grup Yorum-Mitgliedern und den MitarbeiterInnen des Idil Kulturzentrums im Polizeipräsidium in der Vatan Straße berichtet.
AnwältInnen, die mit den Grup Yorum Mitgliedern sprachen teilten mit, dass den Festgenommenen stundenlang rückwärts Handschellen angelegt wurden. Es soll außerdem versucht worden sein, mit Zwang Blut- und Speichelproben zu nehmen.
Für heute Abend Abend 18:00 Uhr hatte der Progressive JuristInnenverband in Istanbul zu einer Demonstration über die Istiklal Straße bis zum Taksim-Platz aufgerufen.
Im Viertel Okmeydani, wo sich die Jugendföderation und das Idil Kulturzentrum befinden, herrscht geradezu Ausnahmezustand. Auseinandersetzungen mit der Polizei begannen bereits bei den ersten Protesten nach den rechtswidrigen Razzien und Festnahmen. Die Polizei hat das Viertel in Gasbomben getränkt, Menschen aus der Bevölkerung hatten sich mit den Jugendlichen und mit den Mitgliedern von Grup Yorum solidarisiert und wurden ebenfalls von der Polizei angegriffen. Die Menschen können aufgrund der Wirkung der Gasbomben nicht aus den Häusern. Außerdem wird niemand in die Nähe des Idil Kulturzentrums gelassen.
Bisherige Reaktionen von Abgeordneten, AnwältInnen und MenschenrechtsvertreterInnen:
Die Proteste gegen diese rechtswidrige, barbarische Polizeimaßnahme häufen sich. So haben über Internetportale und in der Presse KünstlerInnen wie Ezel Akay, Hüseyin Karabey, die an der Entstehung des laufenden Grup Yorum-Kinoprojekts Typ F-Der Film mitwirkten, der Poet Behram Ataoglu, der Generalsekretär des CHD Hüseyin Arslan, Amnesty International Researcher Andrew Gardner, die CHP Abgeordneten Hüseyin Aygün und Emine Ülker Tarhan, u.v.a. ihre Empörung über die Angriffe geäußert.
Der Generalsekretär des CHD Hüseyin Arslan wies darauf hin, dass diese Operationen sich gegen die Verteidigung richteten und verurteilte die Durchsuchungsmethoden.
Auch Andrew Gardner von Amnesty International erklärte gegenüber der BBC, dass die Polizeiaktion „illegal“ sei. Die Polizeiangriffe seien außerdem ein „Verfolgungsmittel, um die oppositionellen Stimmen zum Schweigen zu bringen“.
Rechtsanwalt Behic Asci, der Vorsitzende des TAYAD sagte, „So sieht die fortgeschrittene Demokratie der AKP aus. Wir haben uns nicht unterkriegen lassen. Unsere Wut hat sich gesteigert.“
Auch die Anwaltskammer von Ankara protestierte gegen die Polizeioperation.
Der Vorsitzende der Istanbuler Anwaltskammer Ümit Kocasakal erklärte, dass die Türen in Abwesenheit von Staatsanwalt und Vertretern der Anwaltskammer aufgebrochen wurden und diese Operationen nicht akzeptabel seien.
Demonstration zum Anwaltsbüro des Volkes
Die RechtsanwältInnen marschierten nach eine Presseerklärung vor dem Gericht in Caglayan zum Rechtsbüro des Volkes, in dem eine Durchsuchung stattfand. Die Polizei hinderte die AnwältInnen daran, bis zum Gebäude zu marschieren. Die AnwältInnen, die sich während der Durchsuchung im Büro befanden gingen auf den Balkon und winkten den AnwältInnen zu, die zur Unterstützung gekommen waren.
Die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CHP Emine Ülker Tarhan erklärte: „Die Auffasung, jegliche Regierungsopposition und jede Institution zum Schweigen zu bringen und diese Methode auch gegen die AnwältInnen, die es sich zur Aufgabe machen, die gesellschaftliche Opposition zu verteidigen anzuwenden, ist die Offenbarung der Auffassung einer faschistischen und repressiven Führung und eines Polizeistaates, der an unsere Türen klopft.“
VIDEOLINKS:
Protest von AnwältInnen während der Festnahme von CHD Istanbul-Vorsitzendem Taylan Tanay:
http://www.youtube.com/watch?v=2pqNu2urDa0&feature=player_detailpage
siehe auch:
http://www.jungewelt.de/2013/01-21/053.php