Geheimakte publik – Todesnacht von Stammheim: Nach 35 Jahren gibt es vielleicht neue Ermittlungen

Von Peter Wolter, junge Welt 19.10.

Genau 35 Jahre war es am gestrigen Donnerstag her, daß die RAF-Mitglieder Andreas Baader und Gudrun Ensslin tot im Hochsicherheitstrakt des Gefängnisses Stuttgart-Stammheim gefunden wurden. Jan-Carl Raspe wurde mit einer schweren Schußverletzung ins Krankenhaus gebracht, wo er kurz danach starb. Die einzige Überlebende ist Irmgard Möller, die mit schweren Stichverletzungen gefunden wurde.

Zweifel an der offiziellen Selbstmordthese wurden von amtlicher Seite damals rüde als Phantastereien oder böse Unterstellung abgebügelt. Der Sachbuchautor Helge Lehmann, dessen Buch »Die Todesnacht von Stammheim« 2011 in erster Auflage erschien, hat nachrecherchiert: Phantastereien und Unstimmigkeiten sind demnach wohl eher in der amtlichen Darstellung dieser Nacht zu finden.

Lehmann und Ensslins Bruder Gottfried brachten deswegen gestern bei der Staatsanwaltschaft in Stuttgart den Antrag ein, ein neues Verfahren zur Ermittlung der Todesursachen einzuleiten. Unterstützt wird der Antrag von Ulla Jelpke, Bundestagsabgeordnete der Linkspartei und Mitglied im Innenauschuß. Sie hat selbst 22 Jahre lang ehrenamtlich Strafgefangene betreut – u.a. auch Mitglieder der RAF.

Vor Journalisten, denen die drei gestern in Berlin den Antrag vorstellten, nannte Lehmann 31 Punkte, die neu untersucht werden müßten. In aufwendiger Recherche hatte er zahlreiche mittlerweile freigegebene Gerichtsakten und Ermittlungsprotokolle durchkämmt, mit Zeitzeugen gesprochen und technische Versuche durchgeführt. Er stellt Fragen wie: Warum hatte Gudrun Ensslin, die sich angeblich selbst erhängt hatte, weitere Verletzungen am Körper? Wie kann es angehen, daß sich Baader und Raspe selbst erschießen, ohne daß an ihren Händen Schmauchspuren gefunden werden? Wieso sind auf beiden Pistolen keine Fingerabdrücke? Was hat es mit vier Patronen des Kalibers 9 mm auf sich, die einen ­NATO-Stempel trugen und im Estrich von Baaders Zelle entdeckt wurden? Woher kamen die schwarzen Limousinen, die ein Mitgefangener in der Todesnacht im Hof gesehen haben will?

Die »Ermittlungsrichtung« sei seinerzeit »von vornherein einseitig festgelegt« worden, lautet der Vorwurf von Lehmann und Ensslin. Da die Selbstmordthese »von ganz oben« vorgegeben worden sei, sei auch nur in diese Richtung ermittelt worden. Ensslin führte noch einen weiteren Faktor an: »Akteure in Politik und Justiz waren in der Nazizeit sozialisiert worden und handelten als Männerbünde im Geist der Schützengräben des Zweiten Weltkriegs.« Vielleicht, so fügt er hinzu. »gibt es in der heutigen Generation von Juristen im Staatsdienst Personen, die bereit sind, staatliche Vorgänge kritisch zu untersuchen.«

Und in der Tat, solche Personen scheint es zu geben. Ein geheimnisvoller »Whistleblower« hatte schon vor einiger Zeit Lehmann Hinweise gegeben – jetzt scheint derselbe Mann wieder zugeschlagen zu haben. Vor kurzem fand der Autor in seinem Briefkasten einen braunen Umschlag ohne Absender noch Adresse – Inhalt: Zwei Seiten eines als »Geheim« gestempelten Protokolls der Vernehmung des JVA-Beamten Hans Springer. Der hatte in der Todesnacht Dienst und gab an, von der Torwache zu einem anderen Gefangentrakt beordert worden zu sein. Der Kollege, so schildert er, »gab mir den Auftrag, der Innenwache im langen Flügel behilflich zu sein. Dort solle ich die Kollegen unterstützen. Der Kollege von der Torwache versicherte mir mehrfach, sie würden die Überwachung im 7. Stock lückenlos gewährleisten.«

Der laut Dienstplan zuständige Beamte wurde also entgegen allen bisherigen Darstellungen abgezogen – ob ihn jemand aus dem JVA-Personal ersetzte, oder ob Außenstehenden so der Zugang zum Zellentrakt ermöglicht wurde, wäre von der Justiz zu klären. Ein Teil der Zeitzeugen lebt noch, die bislang geheimgehaltenen Akten der Krisenstäbe der Bundesregierung könnten weiteren Aufschluß geben. Aber vielleicht finden sich noch weitere »Whistleblower« …