immer-noch-700-gefangene

Interview mit Klaus Armbruster zur Situation im Baskenland

Klaus Armbruster lebt seit Jahren in Bilbo, der heimlichen Hauptstadt des Baskenlandes (spanisch: Bilbao). Dort wurde der Fotograf im Jahr 2010 Mitgründer von BASKALE, einem baskisch-deutschen Kulturverein, der sich dem sozial-politisch-kulturellen Austausch zwischen den beiden Ländern widmet. Das Programm enthält konkrete Projekte wie Ausstellungen, Fotoaktivitäten, Dokumentar-Videofilme, Förderung von alternativem Tourismus, eine antifaschistische Stadtführung durch Bilbo, die an die Opfer des spanischen und des deutschen Faschismus erinnern soll.(1) – Die Redaktion

Martin Dolzer:Das spanische Verfassungsgericht hat das Verbot der linken baskischen Partei Sortu aufgehoben. Wie bewerten Sie dieses Urteil?

Klaus Armbruster: Es war das erklärte Ziel der Izquierda Abertzale, also der baskischen Linken, wieder legal arbeiten und bei Wahlen kandidieren zu können, um die eigenen politischen Vorstellungen auch auf institutionellem Wege durchsetzen zu können. Insofern ist ein vorläufiges Ziel erreicht. Eine andere Frage ist der politische Preis, der dafür bezahlt wurde. Bei den letzten Friedensverhandlungen mit der Zapatero-Regierung 2006 war das Parteiengesetz noch zentraler Verhandlungsgegenstand. Die Partei Sortu basiert hingegen genau auf diesem Gesetz und erfüllt alle Bedingungen. Die Rücknahme des Gesetzes wurde also nicht erreicht. Für meine Begriffe ein Pyrrhussieg, denn das Gesetz kann immer nachgebessert und verschärft werden, je nach politischer Konjunktur. Eine Reihe Stimmen von rechts fordern das bereits. Die konservative Presse hat die Legalisierung mit „ETA-Partei legalisiert“ kommentiert. Das spricht für sich. Das Parteiengesetz ist ein Damoklesschwert, das über unseren Köpfen schwebt. Es ist völlig klar, dass es nicht legitim ist, 20% der Bevölkerung von Wahlen auszuschließen. Grund für die Illegalisierung linker baskischer Parteien war das politisch-juristische Konstrukt „alles ist ETA“. Nun ist ETA nicht mehr aktiv, aber die inhaltliche Bestimmung der linksbaskischen Bewegung bleibt die gleiche: Selbstbestimmung und Sozialismus. Insofern hat sich aus der Sicht der spanischen Rechten nichts verändert, der Feind hat nur das Parkett gewechselt. Entsprechend werden diese Kräfte vorgehen. Das lässt sich nach wenigen Tagen bereits feststellen. Es mehren sich erneut Verhaftungen, Polemiken und repressive Schläge.

Welche politischen Ziele hat Sortu? Was passiert nun mit Bildu?

Das politische Ziel von Sortu ist, auf demokratischem Wege die Selbstbestimmung oder Unabhängigkeit des vereinten Baskenlandes zu erreichen – unter sozialistischen Vorzeichen. Was den Loslösungsprozess betrifft, orientiert sich die baskische Linke an den Beispielen von Tschechien, Slowakien, Nordirland, Schottland oder Grönland. Was die andere inhaltliche Bestimmung, den Sozialismus, angeht, ist die Orientierung nicht so eindeutig. Das Spektrum reicht von Marxismus bis zu Sozialdemokratie. Bildu hingegen ist eine gemeinsame Wahlplattform von vier politischen Kräften – eine Sammlungsbewegung verschiedener politischer Couleur: die sozialdemokratische EA, die Abspaltung der Vereinigten spanischen Linken Alternatiba, die Batasuna-Abspaltung Aralar und eben die traditionelle baskische Linke. Auf spanischer Ebene hieß das Projekt Amaiur. Bei den kommenden Regionalwahlen wird es Euskal Herria Bildu, EHB heißen. Ziel ist, eine starke politische Kraft zu schaffen, die auch regierungsfähig ist, wie die Provinzregierung in Gipuzkoa und die dortige Hauptstadt Donostia/San Sebastian zeigen. Nächstes Ziel ist, die Regierung der Autonomen Gemeinschaft Baskenland zu übernehmen oder maßgeblich zu beeinflussen, in der drei von sieben baskischen Provinzen vertreten sind.

n

Wie sieht es im Baskenland mit basisdemokratischen Strukturen aus?

Gute basisdemokratische Strukturen gibt es bei Jugendversammlungen, Gazte Asanbladak, in denen verschiedene politische Strömungen vertreten sind. Auch in den Gaztetxes, besetzten Zentren für Jugendliche und Stadtviertel, wie das Kukutza in Bilbo, das vergangenen September brutal geräumt wurde, gibt und gab es gut funktionierende basisdemokratische Strukturen. Die baskische Linke hat bisher über Stadtteil-Versammlungen funktioniert. Gerade in der Zeit der Illegalisierung wurde dort vieles gemeinsam organisiert. Das wird sich in Zukunft ändern. Die neue Partei wird nach dem Mitgliedsprinzip funktionieren. Eine ganze Reihe von Aktivistinnen der baskischen Linken, die in den sozialen Bewegungen tätig sind, steht diesem Entwurf reserviert gegenüber. In der Zeit des Wartens auf die Legalisierungsentscheidung wurden bereits wichtige inhaltliche Schritte, von einer gezwungenermaßen unsichtbaren Ebene, beschlossen. Eine Präsidentschafts-Kandidatin wurde bestimmt – unklar von wem. Solche Entwicklungen sind natürlich der Umbruchsituation geschuldet. Wir müssen sehen, was das für Konsequenzen hat, für die linke Volksbewegung.
Im Zusammenhang mit Basisdemokratie ist auch die alte baskische Tradition Auzolan wichtig, die Nachbarschaftsarbeit. Alle denkbaren sozialen Aufgaben und Arbeiten werden da gemeinschaftlich freiwillig organisiert. Das geht von Arbeitseinsätzen an wichtigen Treffpunkten, in Vereinen, bis hin zu kulturellen Ereignissen, insbesondere im Zusammenhang mit der baskischen Sprache, dem Euskara. Bestes Beispiel ist die Aste Nagusia, die 9-tägige Fiesta von Bilbo. Ca. 25 Gruppen organisieren seit mehr als 30 Jahren Verkaufs- und Kulturstände, sowie ein detailliertes Musik-, Kultur-, Gastronomie- und Sportprogramm. Freiwillig mit Ausnahme der Zulieferer. Für viele geht dabei der Jahresurlaub drauf. Da feiern zehntausende ohne Polizei auf dem Gelände. Das ist ziemlich einmalig. Diese Fiesta zieht Besucherinnen aus halb Europa an. Interessanterweise bemüht sich die rechte Stadtverwaltung von Bilbo seit Jahren, dieser vorbildlichen Volksbewegung das Wasser abzugraben und es durch ein kommerzielles Modell zu ersetzen. Ebenfalls vorbildlich war das besetzte Stadtteilzentrum Kukutz, Bis zu seiner brutalen Räumung fungierte es als Ersatz für ein nicht vorhandenes Bürgerinnen-Zentrum, basisdemokratisch organisiert, ohne öffentliche Mittel, wurde dort ein vielfältiges Programm für alle Altersklassen organisiert. Auch solche Ansätze wollte und will der rechte Bürgermeister der Stadt mit allen Mitteln unterbinden.

Wie funktioniert die Zusammenarbeit außerparlamentarischer Opposition und den VertreterInnen in den Parlamenten und Kommunen?

Wir sind da momentan an einem Nullpunkt und können gerade mal Bilanz ziehen über ein Jahr Erfahrung. Wegen der Illegalisierung gab es nur in einigen Dörfern in Gipuzkoa linke Rathäuser. Generell ist es in kleinen Gemeinden einfacher, einen guten Kontakt zwischen Institution und sozialer Bewegung zu pflegen. Es gibt öffentliche Versammlungen zu bestimmten Themen, Referenden werden durchgeführt. In den größeren Städten ist die Meinungsbildung nicht so einfach. Im vergangenen Jahr gab es bereits einige Beispiele von fehlender Kommunikation und Nichteinbeziehung von sozialen Bewegungen. Ich denke, das wird für die politische Entwicklung der nächsten Zeit ein zentraler Punkt werden. Die Frage, ob die institutionellen VertreterInnen in der Lage sind, außerparlamentarische Gruppen einzubeziehen oder nicht, ist sehr wichtig.
Im Übrigen hat der Einzug von Bildu in die Rathäuser vor einem Jahr viele gesellschaftliche Gruppen empfindlich geschwächt. Wer jemals bei einer illegalisierten Liste kandidiert hatte, war vom Wahlprozess ausgeschlossen, das waren mehr als 30.000 Personen. Sie galten als „kontaminierende“ Elemente: falls sie kandidiert hätten, wären die entsprechenden Wahllisten Gefahr gelaufen wiederum illegalisiert zu werden. Das hat zu einem abrupten Generationswechsel geführt. Junge Leute, bisher in sozialen Bewegungen aktiv, wurden zu KandidatInnen und gewählten VertreterInnen. Ich denke, nirgendwo in Europa gibt es so viele junge Bürgermeisterinnen wie im Baskenland. Die betroffenen sozialen Bewegungen konnten darüber nicht so erfreut sein, da wichtige TrägerInnen der Arbeit auf diese Weise „wegfallen“.

Noch immer befinden sich mehr als 700 baskische politische Gefangene in den Gefängnissen. In welchen Städten sind sie inhaftiert? Wie sind deren Haftbedingungen?

Die Haftbedingungen sind gezeichnet von der Dispersion, der Verlegung der Gefangenen in weit entfernte Knäste. Das wird seit 33 Jahren praktiziert und ist menschenrechtswidrig. Amnesty International beklagt das jährlich, die Politikerkaste kümmert das nicht. Die nächst liegenden Knäste sind in Asturien, in 300 km Entfernung – andere sind in Ceuta und Melilla, auf afrikanischem Festland. Konkret bedeutet das, dass die Freundinnen und Angehörigen jedes Wochenende für einen Besuch von 40 Minuten im Durchschnitt 770 km fahren müssen. Dazu ist es notwendig, sich mit dem Auto, Bus, Bahn, Taxi oder Flugzeug zu bewegen. Dabei kam es schon oft zu Unfällen, bei denen mehr als 15 Angehörige starben. Es ist kaum vorstellbar, aber sämtliche 700 Gefangenen haben jedes Wochenende bis zu zwei Besuche. Da kommt eine eindrucksvolle Zahl von Reisenden zusammen. Auch eine stattliche Zahl von Kilometern, ganz zu schweigen von den Reisekosten. Fragt sich, wer da bestraft werden soll.
Die Haftbedingungen sind je nach Knastleitung unterschiedlich. Nach wie vor gibt es total isolierte Gefangene, Rollkommandos, oder die Be- und Verhinderung von Besuchen über immer neue Schikanen.

Gibt es bei Verhaftungen und in den Gefängnissen noch Folter?

Da muss differenziert werden. In Frankreich wird nicht misshandelt, dort kommt es nur gelegentlich zu Übergriffen. Systematisch gefoltert wird in Spanien. Betroffen sind Kommando-Mitglieder und Jugendliche aus dem Straßenkampf. Die nicht wenigen inhaftierten PolitikerInnen wurden nicht angetastet. Gefoltert wird nach der Verhaftung, während der 5-tägigen Kontaktsperre. Früher war es brutale Folter, heute sind es Methoden, die auf die Psyche zielen und weniger sichtbare Spuren hinterlassen. Die Anti-Folter-Kommission der UN kritisiert das heftig und fordert die Abschaffung der Kontaktsperre – oder zumindest eine vollständige Videoüberwachung während dieser Zeit. Tatsächlich gibt es ein Sicherheitsprotokoll mit Videoüberwachung, entworfen ausgerechnet vom „Folterrichter“ Garzon. Aber es muss von Fall zu Fall vom Untersuchungsrichter angeordnet werden. Folter ist politisch gewollt, das lässt sich eindeutig sagen. Sie zu beweisen ist enorm schwierig, weil die Gefängnisärzte mit involviert sind. Die wenigen „Massaker“, die ans Licht kamen, führten zwar zu Verurteilungen, die Folterer wurden jedoch jeweils umgehend amnestiert.
Ist es nicht aufgrund der Niederlegung der Waffen der ETA an der Zeit sämtliche politischen Gefangenen sofort frei zu lassen?
Das muss erst mal ein Traum bleiben. Obwohl nicht mal die Rechte die Glaubwürdigkeit dieser ETA-Entscheidung in Frage stellt. Sonst wären nicht tausende von Bodyguards für Politikerinnen abgezogen worden. Tatsache ist, dass die neue politische Situation für keinen einzigen Gefangenen bisher auch nur den kleinsten Vorteil gebracht hat. Die Angehörigen-Organisation „Etxerat“ („Nach Hause“) beschreibt die Situation als schlechter als vor einem Jahr. Nicht mal die Schwerkranken werden entlassen. Die postfrankistische PP stellt sich völlig stur. Strafen werden sogar nachträglich verlängert. Es gab bereits so absurde Situationen, dass Gefangenen freigelassen wurden und ein Jahr später zum „Nachsitzen“ wieder verhaftet wurden! Willkürlich. Nur wer abschwört und vor den Opfern einen Kniefall macht, kann etwas erwarten. Die nationalkatholisch sozialisierten SpanierInnen kennen keinen Mittelweg, keine Annäherung. In einem solchen Wertesystem gibt es lediglich die Möglichkeiten des totalen Sieges oder der Niederlage – eine bis heute andauernde totalitäre „Errungenschaft“. Das war im Krieg von 1936 so – und ist heute nicht anders. Auch wenn sogar Politiker wie Blair, Annan und andere EuropäerInnen den Kopf darüber schütteln und ein Umdenken fordern. Für die Gefangenen heißt das: Unterwerfung oder den Versuch der physischen und psychischen Vernichtung. ETA löst sich nicht von heute auf morgen auf, wie es jeden Tag polemisch in der Presse gefordert wird. Gerade solange es keine Perspektive für die Gefangenen gibt, kann ETA sich gar nicht auflösen, – schon aus purem Verantwortungsbewusstsein ist das nicht möglich. Die vielen im französischen Untergrund Lebenden brauchen ebenfalls eine Zukunft, selbst wenn sie vorübergehend über den Knast führen sollte. All das kann nur auf dem Verhandlungsweg erreicht werden, einschließlich Waffenübergabe. ETA hat mehrfach ihre Bereitschaft dazu erklärt. Ein vierköpfiges Verhandlungs-Kollektiv der Gefangenen wartet lediglich auf den Anruf der Gegenseite. Was Freilassungen betrifft, können wir heute nur spekulieren. Auch ohne Amnestie müssen zuallererst die kranken Gefangenen frei gelassen werden, und zwar sofort. Gleichzeitig all jene, die offiziell ihre Strafe verbüßt haben, ohne Nachsitzen. All diese Freilassungen erfordern keine Sonder-Entscheidungen, sie beruhen auf den bestehenden gesetzlichen Regelungen. Natürlich hängen sie trotzdem vom politischen Willen ab. Die Kriterien für alle folgenden Freilassungen müssen verhandelt werden. Dieser Anfang muss gemacht werden, das ist der wichtigste und schwierigste Schritt.

Was wünschen Sie sich in Bezug auf politische Entwicklungen im Baskenland für die nähere Zukunft?

Ich hoffe, dass die außerordentliche Mobilisierungsfähigkeit der baskischen Gesellschaft nicht verloren geht, denn manche beklagen sich schon, dass diese nachlässt. Wichtig ist, dass die aufstrebenden Linksbündnisse ihren „Bodenkontakt“ behalten und nicht abheben – wie wir das in anderen Ländern oft gesehen haben, wenn vorher emanzipatorisch orientierte Menschen „auf einmal“ im Parlament arbeiten – bei den Grünen in der BRD zum Beispiel. Wichtig ist vor allem, dass trotz Sammelbewegung linke Inhalte nicht verloren gehen. Der Begriff Sozialismus für das Baskenland muss gefüllt werden, programmatisch zwischen Cuba, Schweden, Lenin und Venezuela. Das sind die Schwerpunkte, an denen wir in der nächsten Zeit arbeiten müssen. (PK)

(1) Weitere Infos hier: http://baskale-elkarte.blogspot.com/