Interview über das Gefängnissystem im Westjordanland Palästina: Der Wille soll gebrochen werden

Dasselbe galt vor 1967 für die Palästinenser:innen in Israel und hat sich in den letzten Jahrzehnten nur noch verschärft. Ein Interview mit Sahar Francis, Direktorin der Gefangenenrechtsorganisation Addameer.

Andrea Bregoli: Ich möchte mit einer allgemeinen Frage beginnen: Wenn wir über Gefängnisse und Inhaftierungen sprechen, handelt es sich um zentrale Unterdrückungsinstrumente des israelischen Siedlerkolonialismus und Apartheidregimes. Rund eine Million Palästinenser:innen wurde seit 1967 inhaftiert. Das ist fast ein Fünftel der gesamten Bevölkerung. Eine:r von fünf Palästinenser:innen hat also irgendwann im Leben Erfahrungen mit Gefängnis oder Verhaftung gemacht. Was will die Besatzung mit diesen repressiven Methoden erreichen? Was unterscheidet Gefängnis und Inhaftierung von anderen Massnahmen?

Sahar Francis: Freiheitsentzug war schon immer ein mächtiges Instrument der Kontrolle der palästinensischen Gesellschaft, um deren politisches Leben einzuschränken, jeden Widerstand gegen die Besatzung durch dieses Kolonialregime seit 1948 zu untergraben und zu beenden. Nach 1967 ging dies weiter, aber auch in der ersten Periode zwischen 1948 und 1966 unterstellte Israel die palästinensische Bevölkerung in Israel einer militärischen Kontrolle und einem System mit Militärdekreten und gerichten. Von 1966 bis 1999 wurden Palästinenser:innen trotz israelischer Staatsbürgerschaft vor Militärgerichte gestellt. Dieselben Strategien wurden auch nach der Besetzung von 1967 angewandt: Dieses ganze System mit Militärdekreten und Militärgerichten wurde eingeführt, um die Kontrolle über die palästinensische Gesellschaft weiterzuführen.

Ich muss aber präzisieren, dass das derzeitige Militärsystem, das im besetzten Gebiet nach 1967 durchgesetzt wurde, wesentlich ausgefeilter ist als das, womit Israel angefangen hat. Erneut spiegeln sich darin die Strategien der Kolonialist:innen, die die Kontrolle über das palästinensische Volk behalten wollen, um mit ihrer Kolonisierung fortfahren zu können. Wenn sie diejenigen nicht verhaften, die sich gegen die Besiedlung wehren, die gegen den Abriss von Häusern demonstrieren, die gegen all die Unterdrückung und die Rechtsverletzungen aufbegehren, mit denen wir tagtäglich vor Ort konfrontiert sind, könnten sie mit diesen Rechtsverletzungen nicht fortfahren. Das erklärt, warum jedes Jahr Tausende von Menschen inhaftiert werden. Das betrifft keineswegs nur militante Aktionen, bei denen Israel behauptet: «Wir bekämpfen Terrorismus.»

Nehmen wir zum Beispiel die derzeit 4500 palästinensischen Gefangenen, die in israelischen Gefängnissen sitzen. Etwa 500 oder höchstens 600 sind zu lebenslangen Haftstrafen verurteilt, was bedeutet, dass sie an militanten Aktionen beteiligt waren und deshalb zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt wurden. Alle anderen wurden zu weitaus geringeren Strafen verurteilt, was bedeutet, dass sie entweder Steine geworfen, illegale Demonstrationen angeführt haben oder Mitglieder illegaler politischer Parteien sind.

Man muss wissen, dass bis heute, fast 30 Jahre nach dem Osloer Abkommen, alle politischen Parteien in Palästina gemäss Militärdekreten immer noch als illegal gelten, einschliesslich der Fatah, der wichtigsten Partei der PLO, die das Osloer Abkommen unterzeichnet hat. Alle Studierendenbewegungen in Palästina sind also illegal. Alle Aktivitäten, die von der Besatzungsmacht als Anstiftung zur Gewalt eingestuft werden – auch das Schreiben von Beiträgen auf Facebook oder in den sozialen Medien –, all diese Tätigkeiten, die gesamten politischen und zivilen Rechte der Palästinenser:innen, werden durch diese Militärdekrete, die das Militärsystem hier immer wieder erlässt, um die Kontrolle zu behalten, gewissermassen illegalisiert.
Im Jahr 2021 stufte Israel sechs palästinensische NGOs als terroristische Organisationen ein. Darunter befinden sich drei Organisationen, die sich für die Rechte palästinensischer politischer Gefangener einsetzen: Addameer, alHaq und DCIP. Die völlig unbegründete Anklage wurde von verschiedenen UN-Organisationen wie dem UN-Hochkommissariat für Menschenrechte, aber auch von der EU und den USA verurteilt. Erst kürzlich erklärte das Amt für Betrugsbekämpfung der Europäischen Kommission, keine Ermittlungen gegen die sechs NGOs einzuleiten, da die von Israel vorgelegten Beweise «nicht die erforderliche Beweisschwelle erreichen würden». Der Handlungsspielraum der NGOs wurde dennoch stark eingeschränkt.
AB: Hat diese Kontrolle irgendeinen Einfluss auf die Inhaftierten? Man kann die Kontrolle als etwas Abstraktes betrachten, aber auf individueller Ebene hat sie eindeutige Folgen.

SF: Ja, auf jeden Fall. Diese ganze Zwangsatmosphäre hat letztendlich nicht nur einen Einfluss auf die gesamte Gesellschaft. Es ist vielmehr so, dass das Instrument zunächst gegen Einzelne eingesetzt wird und sich dann auf die gesamte Gesellschaft auswirkt. Auf der individuellen Ebene ist der Prozess der Inhaftierung selbst begleitet von Gewalt und Folter – körperlicher und psychischer Folter.

Die repressive Atmosphäre im Militärgerichtssystem, in den Prozessen selbst, ist sehr angespannt, sehr nötigend. Man wird durch Folter oder aus Hoffnungslosigkeit, weil man sich vom System keine Gerechtigkeit erwartet, dazu gebracht, eine aussergerichtliche Einigung für etwas zu akzeptieren, was man vielleicht getan hat, vielleicht aber auch nicht. Der gesamte Prozess der Inhaftierung – vom ersten Moment der Festnahme zu Hause, wenn sie das Haus stürmen und mit brutaler Gewalt gegen die ganze Familie vorgehen und die verhaftete Person foltern – ist also eine höchst angespannte Situation. Dazu gehören auch psychische und körperliche Folter, Schikanen, Beschimpfungen und Misshandlungen, denen die Gefangenen während des Gerichtsverfahrens, während ihrer Verurteilung und durch die Bedingungen im Gefängnis ausgesetzt sind. Ich würde also sagen, dass die Strategie, die mit den Inhaftierungen verfolgt wird, darin besteht, den Willen der Einzelnen zu brechen.

Sie sollen wirklich gebrochen werden. Deshalb gibt es Fälle wie den von Ahmed Manasra, einem Jungen, der mit 14 Jahren verhaftet und gefoltert und anfangs zu zwölf Jahren Haft verurteilt wurde, die dann auf neun Jahre reduziert wurden. Durch diese Behandlung leidet Ahmed heute an einer posttraumatischen Störung und wird als Reaktion auf damit verbundene Verhaltensweisen in Isolationshaft gehalten. Denn im Gefängnissystem gibt es keine medizinischen Verfahren, um mit solchen sehr schwierigen Fällen von Folter oder langen Haftstrafen umzugehen. Die einzige Lösung im Gefängnissystem besteht darin, sie in Isolation zu stecken, anstatt sie freizulassen, damit sie draussen angemessen behandelt werden können. Der Fall Ahmed spiegelt sehr gut wider, wie sehr sich die Erfahrung der Inhaftierung auf den Einzelnen auswirken kann.

Natürlich erleiden nicht all die Tausenden palästinensischen Gefangenen solche schwerwiegenden Traumata. Aber es gibt eine lange Reihe anderer Krankheiten, die Gefangene entwickeln, wenn sie lange Zeit in solchen Gefängnissen sitzen, in denen es keine angemessene Gesundheitsversorgung gibt. Die Lebensbedingungen sind dort generell nicht besonders gut. Man kann sich also vorstellen, wie schlecht es um die Gesundheit der Gefängnisinsass:innen bestellt ist.
Addameer (arabisch für Gewissen) ist eine palästinensische Menschenrechtsorganisation mit Sitz in Ramallah. Sie wurde 1991 von Aktivist:innen gegründet und stellt politischen Gefangenen kostenfreie Rechtsberatung und juristischen Beistand zur Verfügung. Sie setzt sich damit für die Rechte von Gefangenen in Israel und im besetzten palästinensischen Gebiet ein. Ein weiteres erklärtes Ziel ist es, menschenrechtswidrige Praktiken gegenüber Gefangenen, wie etwa Folter, zu dokumentieren und dazu beizutragen, dass die Verantwortlichen für diese Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden. www.addameer.org
AB: Es geht ja nicht nur um die Gefangenen selbst, denn die Tatsache, dass man im Gefängnis war, wirkt sich auch auf die Familie aus.

SF: Natürlich. Wenn wir von Hunderttausenden von Palästinenser:innen sprechen, die in all den Jahrzehnten der Besatzung zur Zielscheibe wurden, dann ist das ein riesiger Teil der gesamten Gesellschaft, der von dieser Gefängniserfahrung betroffen ist. Aber wie du beschreibst, geht es nicht nur um den Einzelnen selbst.

Letztlich ist die ganze Familie involviert, weil sie die Gefangenen besucht und an den Gerichtsverhandlungen dabei sein muss. Das alles ist mit einer Menge Demütigungen verbunden. Mit dem Argument der «Sicherheit» werden in diesem Zusammenhang all die Misshandlungen, Demütigungen und kollektiven Bestrafungen erklärt. Davon ist, würde ich sagen, die ganze Familie betroffen. Manchmal wird die Mutter am Eingang des Gefängnisses einer Leibesvisitation unterzogen, wenn sie ihren Sohn besuchen will. Können Sie sich vorstellen, was das für diese Frau bedeutet? Sie muss darauf bestehen, ihren Sohn zu besuchen, auch wenn sie auf so schreckliche Weise gedemütigt wird, indem man sie unter dem Vorwand der Sicherheit einer Leibesvisitation unterzieht, aus Angst, sie könnte ihrem Sohn etwas «Verbotenes» ins Gefängnis bringen.

Das kann all diesen Hunderten von Familienangehörigen täglich passieren, auch indem man ihnen den Besuch verbietet. Sie erreichen das Gefängnistor und erhalten dann die Auskunft: «Nein, Sie stellen ein Sicherheitsproblem dar, Sie können Ihren Sohn nicht besuchen.» Die Angehörigen nehmen dafür eine lange Reise auf sich, zehn Stunden Fahrt und Durchsuchungen an den Checkpoints im Westjordanland, bis sie das Gefängnis erreichen. Es ist sehr kompliziert.

Natürlich geschieht auch bei der Verhaftung selbst Ähnliches: das Chaos und die Übergriffe, die sie im Haus begehen, wenn sie alles durchwühlen, dabei Möbel zerbrechen und alles durcheinanderwerfen oder Familienmitglieder manchmal im Winter zwingen, draussen in der Kälte zu warten, oder sie für mehrere Stunden in einen Raum zusammensperren, wo sie sich weder bewegen noch sprechen dürfen. Und wenn sie die gesuchte Person nicht finden, nehmen sie deren Vater oder einen der Brüder fest. Wie viel Stress bedeutet das für die ganze Familie! Ja, natürlich, es wirkt sich nicht nur auf die Person selbst aus und nicht nur im Moment. Stellen Sie sich vor, jemand ist 20 Jahre lang in Haft, nicht einmal lebenslänglich, nur 20 Jahre. Wie geht die Familie all die Jahre mit der Situation um? In den 20 Jahren werden die Gefangenen oft zwischen verschiedenen Gefängnissen innerhalb Israels verlegt. Die Familie muss jedes Mal in ein anderes Gefängnis reisen, manchmal ohne vorher informiert zu werden, dass die oder der Gefangene verlegt wurde. Alle palästinensischen politischen Gefangenen haben zum Beispiel bis heute keinen Zugang zu öffentlichen Telefonen in ihren Sicherheitsabteilungen. Das bedeutet, dass man von seiner Familie völlig abgeschnitten ist, wenn man nicht einmal jeden Monat Besuch von Angehörigen bekommt. Sie können ihre Angehörigen nicht anrufen. Sie wissen nicht, wie es ihnen geht und was es Neues gibt. Briefe kommen – bis alle Sicherheitskontrollen im Gefängnis durchlaufen sind – erst nach zwei oder drei Monaten an.
Gemäss eigener Aussage ist alHaq (arabisch für Recht) eine der ersten Menschenrechtsorganisationen in der arabischen Welt. Sie wurde 1979 von Anwält:innen gegründet und dokumentiert Menschenrechtsverletzungen an der palästinensischen Bevölkerung durch Israel und die palästinensische Autonomiebehörde. Mit Öffentlichkeitsarbeit, zum Beispiel Kampagnen gegen die Administrativhaft, versucht alHaq die eigene Gesellschaft sowie nationale und internationale Akteur:innen für Menschenrechtsverletzungen zu sensibilisieren. Durch Druck hofft man menschenrechtswidrige Praktiken zu beenden und unter Strafe zu stellen. www.alhaq.org
AB: Sie haben die Einstufung in Sicherheitsklassen erwähnt. Die meisten inhaftierten Palästinenser:innen werden als Sicherheitsgefangene eingestuft, oder?

SF: Ja, aber die Militärdekrete erlauben den Militärgerichten, auch Fälle zu verfolgen, die nicht als Sicherheitsfälle eingestuft sind. Unter die Zuständigkeit der Militärgerichte fallen also verschiedene Kategorien. Dazu gehören all diese «Sicherheitsdelikte», darunter die Störung der öffentlichen Ordnung beispielsweise durch Demonstrationen, das Hissen der palästinensischen Fahne, die Mitgliedschaft in einer politischen Partei – lauter zivile Aktionen, die nicht mit militantem Widerstand verbunden sind. Militante Aktionen werden als terroristische Handlungen eingestuft.

Neben diesen beiden Hauptkategorien gibt es noch die Kategorie der illegalen Einreise nach Israel, beispielsweise durch Arbeiter:innen, die in Israel arbeiten wollen – auch sie können strafrechtlich verfolgt werden. Sie werden im Gefängnissystem von den ersten beiden Kategorien aber völlig getrennt behandelt. Die ersten beiden Kategorien werden als Sicherheitsgefangene eingestuft. Arbeiter:innen, die zum Beispiel wegen unerlaubter Einreise nach Israel inhaftiert sind, werden nicht in der Sicherheitsabteilung untergebracht. Auch normale Straftaten oder Strassenverkehrsdelikte werden nicht als Sicherheitsfälle eingestuft, und trotzdem kann das Militärgericht Palästinenser:innen dafür verurteilen. Sie werden dann in der Straf und nicht in der Sicherheitsabteilung festgehalten.

Diese fünf Kategorien sagen viel darüber aus, wie das System manipuliert wurde, um die Kontrolle zu behalten. Denn warum sollten Zivilpersonen vor Militärgerichte gestellt werden? Warum werden sie wegen eines Verkehrsdelikts nicht vor einem Zivilgericht angeklagt?

Palästinenser:innen aus Ostjerusalem oder mit israelischer Staatsbürgerschaft müssen sich bei Sicherheitsangelegenheiten vor einem Zivilgericht verantworten. Das Strafgesetzbuch sieht bei Zivilgerichten keine so strenge Unterteilung in Kategorien von Straftaten vor, es gibt aber die Kategorie ideologisch motivierter Straftaten. Wenn man also als Palästinenser:in eine:n israelische:n Staatsbürger:in ersticht, wird dies als terroristischer Akt eingestuft, weil man ein ideologisches Motiv hat. Das Gefängnissystem hat also seine eigenen Regeln, um diese Gruppen zu klassifizieren und zu unterscheiden. Wenn man aus Ostjerusalem kommt oder die israelische Staatsbürgerschaft hat und in der Anklageschrift von Terrorismus die Rede ist, kommt man auch in die Sicherheitsabteilungen.

Jüdische Israelis, die wegen derselben Taten wie die Palästinenser:innen verhaftet werden, z. B. weil sie Palästinenser:innen angegriffen, verletzt oder getötet haben, kommen nicht in dieselben Abteilungen des Sicherheitstrakts. Sie werden in den regulären Strafabteilungen untergebracht. Vielleicht unterliegen sie einigen Einschränkungen, wie Yigal Amir, der den israelischen Premierminister [Yitzhak Rabin] ermordete. Er sitzt in einer Einzelzelle, aber verglichen mit den palästinensischen Gefangenen, die oft mehrere Jahre, zehn Jahre oder länger, in Isolationshaft gehalten werden, geniesst er einige Privilegien. Diese Gesetze werden genutzt und neue Gesetze und Verordnungen erlassen, um diese diskriminierende Politik, die dann vor Ort umgesetzt wird, zu legalisieren.
Gefangene in der Isolationshaft sind fast 23 Stunden am Tag eingesperrt, dürfen nur einmal für eine Stunde nach draussen, müssen die ganze Zeit Handschellen tragen und werden ständig kontrolliert. Sogar in der Freizeit werden oft nur die Hände gelöst, während die Beine weiter gefesselt sind. Besuche sind stärker eingeschränkt. In manchen Fällen sind Familienbesuche über Jahre untersagt, in einigen Fällen bis zu drei Jahre.
AB: Welche Rolle spielen Beweise in all dem?

SF: Das ist unterschiedlich. Bei den Gerichtsverfahren ist es, würde ich sagen, etwas komplizierter und es verändert sich. Verglichen damit, wie diese Militärgerichte in den ersten Jahren der Besatzung gehandelt haben, hat sich etwas geändert. Das muss man zur Kenntnis nehmen. Die Militärjustiz versucht, die militärischen Verfahren den Entwicklungen im israelischen Strafrecht anzupassen. Es ist aber verzwickt. Wenn man das System nicht sehr gut kennt und nicht weiss, wie es funktioniert, könnte man glauben, dass es sich weiterentwickelt und wirklich nach internationalen Standards für faire Gerichtsverfahren und Strafprozesse gearbeitet wird. Als Anwältin, die seit mehr als 25 Jahren in diesem System arbeitet, kann ich aber versichern, dass dies nicht der Fall ist.

Auf Ebene der Beweise werden beispielsweise die Geständnisse der Gefangenen herangezogen. In den meisten Fällen besteht bei den Tausenden von Fällen vor dem Militärgericht der Hauptbeweis aus dem Geständnis der Gefangenen selbst oder anderer Gefangener. Gegen diese Beweismittel spricht schon einmal die Tatsache, dass sie unter Nötigung, Gewalt, psychischer und körperlicher Folter, die während des Verhörs angewandt wurden, entstanden sind. Das hat aber keinen Einfluss darauf, dass diese Geständnisse vor Gericht als Beweismittel angenommen werden.

Denn gemäss Militärdekreten und dem israelischen Gesetz ist ein Geständnis, das unter Folter gemacht wurde, nicht automatisch ungültig. Das Gericht kann die Beweise anhören und dann beurteilen, ob es sie akzeptiert oder nicht. In den meisten Fällen kümmert sich das Gericht nicht um die Folter. Wir haben Hunderte, Tausende von Fällen von Folteropfern, die nie untersucht wurden, und niemand wurde wegen der Anwendung von Folter strafrechtlich verfolgt.

Weitere Beweise sind natürlich die Aussagen der Soldat:innen, die beteiligt waren, oder der Siedler:innen, die Zeugenaussagen machen. In seltenen Fällen werden andere Beweismittel gesammelt, dies vor allem dann, wenn es sich um einen militanten Angriff handelt. Dann werden regulär Beweise gesammelt, es gibt einen forensischen Bericht mit der Waffe, mit Fundstücken oder was auch immer.

Das Problem ist jedoch, dass vor den Militärgerichten über 99 Prozent der Fälle mit einem aussergerichtlichen Vergleich enden. Es gibt keine ordnungsgemässe Untersuchung der Beweise, die vor Gericht gebracht werden, weil die Gefangenen lieber einen Vergleich anstreben, als das Verfahren auszuschöpfen, da sie dem Militärgerichtssystem nicht trauen. Sie wissen, dass sie mit einem Vergleich am besten aussteigen. Andernfalls würden sie höchstwahrscheinlich verurteilt und die Strafe wird noch erhöht, weil sie die Zeit der israelischen Behörden beansprucht und das Verfahren ausgeschöpft haben.
Adalah (arabisch für Gerechtigkeit) wurde 1996 von zwei palästinensischen NGOs gegründet. Anders als die oben genannten Organisationen hat Adalah seinen Sitz im israelischen Haifa und setzt sich für die Rechte der palästinensischen Minderheit in Israel ein. Auch Adalah bietet kostenfreie Rechtshilfe an und betreibt intensive Öffentlichkeitsarbeit, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Im Unterschied zu den anderen NGOs ist es Adalah als Organisation mit Sitz in Israel möglich, selbst Fälle vor israelische Zivilgerichte und den obersten Gerichtshof zu bringen und den Staat und seine Institutionen wegen menschenrechtswidrigem Verhalten und Gesetzen anzuklagen. Von diesem Recht macht die NGO immer wieder Gebrauch und konnte einige Prozesse gewinnen. Viele diskriminierende Gesetze, die Adalah in Gerichtsprozessen zu bekämpfen versuchte, wurden von den israelischen Justizbehörden jedoch gut geheissen und sind nun Teil der Gesetzgebung. www.adalah.org/en/
AB: Ist die Tatsache, dass Beweise, vor allem Geständnisse, kaum anfechtbar sind, eine der grössten Herausforderungen für Anwält:innen, die palästinensische Gefangene vertreten?

SF: Es ist sehr schwierig. Als Anwältin weiss ich zwar, dass ich im Grunde die Strategie verfolgen sollte, das gesamte Verfahren auszuschöpfen, Zeugen zu vernehmen, ein Kreuzverhör zu machen und so weiter. Aber was tut man, wenn man weiss, dass man damit für die Mandant:innen nichts herausholen kann? Wie können diese davon überzeugt werden, in den Zeugenstand zu treten, statt sich auf einen Vergleich einzulassen? Vor allem bei Kindern, wo man weiss, dass es Monate dauern wird, wenn das Verfahren ausgeschöpft wird. Gleichzeitig kann man beispielsweise bei einem Kind beim ersten Mal sicher sein, mit sechs, sieben oder acht Monaten davonzukommen, wenn man sich auf einen Vergleich einlässt und zugibt, dass man Steine geworfen hat.
Samidoun (arabisch für die Standhaltenden) ist 2011 aus einem koordinierten Hungerstreik mehrerer palästinensischer politischer Gefangener in israelischen Gefängnissen entstanden. Die Organisation sieht ihre Aufgabe darin, das öffentliche Bewusstsein für die Situation palästinensischer politischer Gefangener zu schärfen. Dieses Ziel versuchen sie durch Kampagnen, die Ausrufung eines Solidaritätstages (am 17. April) und Veranstaltungen zu erreichen. Samidoun sieht die palästinensischen politischen Gefangenen an der Spitze des Befreiungskampfes. Jede Form politischen Handelns werde von Israels Praktik massenhafter Verwahrung von Palästinenser:innen in Gefängnissen kriminalisiert. Der Einsatz für die politischen Gefangenen sei nicht nur ein Beitrag zur Einhaltung der Menschenrechte, sondern auch zur Befreiung Palästinas. www.samidoun.net/de/
AB: Eine Frage zum Widerstand: Wie boykottieren die Untersuchungshäftlinge von 2022 die Militärgerichte und was riskieren sie damit?

SF: Zunächst ist zu erwähnen, dass es nicht das erste Mal ist, dass die Untersuchungshäftlinge das Militärgerichtssystem boykottieren. Sie haben dies bereits 2002 und 2014 getan. Es geht vor allem darum, den Druck auf die Militärgerichte und den Sicherheitsdienst aufrechtzuerhalten, damit sie die Administrativhaft reduzieren; gleichzeitig soll die Problematik dieser Politik aufgezeigt werden.

Natürlich hoffen die Gefangenen, dass sie damit das System vollständig ändern und Israel dazu bringen können, die Administrativhaft nicht mehr anzuwenden. Gleichzeitig wissen sie und wir Menschenrechtsanwält:innen und organisationen, dass diese Boykottstrategie nicht ohne Weiteres zur Abschaffung der Administrativhaft führen wird. Wir wissen, dass es viel Druck braucht. Es braucht stärkere Mittel, um Israel zur Beendigung der Administrativhaft zu zwingen.

Seit 2021 haben aber andere Formen des Widerstands gegen die Administrativhaft durch individuelle Hungerstreiks deutlich zugenommen. Immer mehr Administrativhäftlinge wollen durch ihren Entscheid ein Signal setzen, weil sie eigentlich keine andere Wahl haben. Andernfalls warten sie einfach darauf, dass Militärkommandant:innen die Verlängerung der Administrativhaft entscheiden. Das ist sehr schwierig, denn es ist wirklich eine psychologische Folter, verhaftet zu werden und nicht zu wissen, wann man wieder freigelassen wird. Deshalb entscheiden sich die Administrativhäftlinge für die Widerstandsform des Hungerstreiks. Nach einem langen Hungerstreik können sie zumindest davon ausgehen, dass der Sicherheitsdienst ein Haftende mitteilt, auch wenn sie nicht sofort freigelassen werden. Aber zumindest würde sich der Sicherheitsdienst verpflichten, den letzten Befehl zu geben und zu sagen: «Wir werden Sie nicht mehr überprüfen.»

Die boykottierenden Administrativhäftlinge wissen, dass es sehr gefährlich ist, jedem einzelnen Häftling zu überlassen, ob er/sie aus Widerstand gegen diese Politik in den Hungerstreik tritt, denn das hat gesundheitliche Folgen, ändert aber nicht die gesamte Politik. Es kann zwar zu deiner Freilassung führen, aber ändert nichts an der allgemeinen Politik. Deshalb sind sie darauf gekommen, sich gegen die Administrativhaft zu wehren, indem sie das Gericht boykottieren, aber sie machen auch andere Aktionen innerhalb der Gefängnisse. Sie weigern sich zum Beispiel, aufzustehen, wenn die Polizei in ihre Zelle kommt, um sie jeden Tag zu zählen. Sie bleiben auf ihren Betten sitzen. Auch das ist eine Aktion, um sich dem System zu widersetzen. Sie haben über einen kollektiven Hungerstreik nachgedacht, ihn aber wegen des politischen Diskurses, des Krieges in der Ukraine und der internen Spannungen aufgeschoben. Sie denken, es ist nicht der richtige Zeitpunkt für einen kollektiven Hungerstreik.

Für die Bewegung der palästinensischen Gefangenen war der Hungerstreik im Allgemeinen die wichtigste Form des Widerstands, die ernsthafteste, mächtigste und gefährlichste Form, die die Gefangenen bislang eingesetzt haben, um ihre wichtigsten Grundrechte innerhalb des israelischen Gefängnissystems durchzusetzen: Freizeit, Matratzen, sogar Familienbesuche – all die Rechte wurden durch eine langen Reihe von Hungerstreiks während vieler Jahrzehnte durchgesetzt.
Defense for Children International ist eine 1979 gegründete globale NGO, die sich für die Einhaltung der Kinderrechte, wie sie in der UNKinderrechtskonvention festgehalten wurden, einsetzt. Die Organisation hat ihren Sitz in Genf. Der palästinensische Ableger Defense for Children International Palestine (DCIP), wurde 1991 gegründet und hat seinen Sitz in Ostjerusalem. Der Fokus von DCIP liegt auf der Einhaltung der Rechte palästinensischer Kinder. Es verfolgt von der Mutterorganisation unabhängig Projekte, die dem Kontext in Israel und dem besetzten Gebiet angepasst sind. DCIP setzt sich unter anderem für die Rechte von Kindern in Gefangenschaft ein. www.dcipalestine.org

Interview von palaestina-info.ch