Mumia Abu-Jamals “Anhörung“ vor dem 3. US-Bundesberufungsgericht

Die Atmosphäre im Gerichtssaal war entspannt, die Protagonisten des Geschehens behandelten einander mit fast übertriebener Zuvorkommenheit, im Lauf der fast einstündigen Verhandlung fiel kein einziges lautes Wort. Dennoch – oder wohl gerade deswegen – war die gesamte Szenerie gespenstisch und kafkaesk: Argumentiert, verhandelt und gestritten wurde über Leben und Tod eines Mannes, der dabei nicht einmal selbst anwesend sein durfte.

Gegenstand der mündlichen Anhörung vor dem 3. US-Bundesberufungsgericht im größten Saal des James A. Byrne Courthouse, 601 Market Street, Philadelphia am 9. November 2010 war die Frage, ob der im Juli 1982 erst des Polizistenmordes schuldig gesprochene und dann zum Tod Verurteilte hingerichtet werden soll oder den Rest seines Lebens ohne Möglichkeit auf vorzeitige Entlassung im Gefängnis verbringen muss.
Zuvor hatte Abu-Jamal, der von Anfang an auf seiner Unschuld „im Sinne der Anklage“ bestanden hat, 27 Jahre lang um einen vollständig neuen Prozess gekämpft, in dem er diese Unschuld nachweisen wollte, aber diese Bemühungen wurden im April 2009 mit der Bestätigung des Schuldspruchs gegen ihn durch den US Supreme Court endgültig zunichte gemacht. Sollte es Abu-Jamal nicht gelingen, neues Beweismaterial für seine Unschuld vorzulegen, steht seiner lebenslangen Einbetonierung in einer kleinen Zelle rechtlich gesehen nichts mehr im Wege. Doch im schlimmsten Fall könnte dies auch seine Hinrichtung bedeuten. Zwar war das Todesurteil gegen ihn 2001 von einem Bundesrichter aufgehoben und diese Entscheidung im März 2008 durch das oben erwähnte 3. Bundesberufungsgericht bestätigt worden, aber im Januar 2010 annullierte der US Supreme Court diese Beschlüsse und verwies den Fall zur erneuten Beratung an das Bundesberufungsgericht zurück.

Ein Mann namens Spisak
Unmittelbar vor dieser Entscheidung zum Fall Mumia Abu-Jamal hatte der Supreme Court den Fall des geständigen Mörders Frank Spisak verhandelt, der Anfang der achtziger Jahre in Cleveland, Ohio aus rassistischen, antisemitischen und ganz offenkundig auf seinen verwirrten Geisteszustand zurückgehenden Motiven drei Menschen umgebracht hatte. Bei seinem Mordprozess zeigte sich Spisak als völlig reuelos und bedauerte lediglich, dass eines seiner Opfer kein Jude war, „obwohl ich dachte, das sei der Fall“. Ein weiteres bizarres Detail ist, dass er während seiner Verhandlung demonstrativ ein Hitlerbärtchen trug.
Spisaks Anwalt hatte der Jury in seinem Schlussplädoyer gesagt: „Meine Damen und Herren, wenn Sie sich nun einmal Frank Spisak ansehen, suchen Sie nicht nach guten Taten, weil es sie nicht gibt. Suchen Sie nicht nach guten Gedanken, weil er keine hat. Er ist krank, er ist verdorben. Er ist verrückt, und er wird niemals anders sein.“ Mit seinen eigenen Erklärungen im Gerichtssaal, mit denen er weitere Gewalttaten ankündigte, hatte Spisak dieses Bild bereits eindrücklich bestätigt. Die Frage war jedoch, ob ein Verteidiger, der das Leben seines Mandanten retten will, so sprechen durfte?
Das war der eine Einwand, mit dem Spisaks spätere Verteidiger versuchten, ihren Klienten vor der Hinrichtung zu bewahren: Sie argumentierten, mit seinem Plädoyer habe sein ursprünglicher Anwalt einen nicht unbeträchtlichen Anteil an seinem Todesurteil gehabt. Doch Spisaks Anwälte brachten noch einen zweiten Einwand vor, und das ist derjenige, der Spisaks Fall mit dem Fall Abu-Jamal in Verbindung bringt.

Die Einstimmigkeit der Jury
In den meisten Staaten der USA sind es nicht Richter, sondern Geschworene einer Jury, die bei Kapitalverbrechen über Schuld oder Unschuld des Angeklagten und dann in einer zweiten Prozessphase über das Strafmaß entscheiden. Dabei ist die Entscheidung über die Schuldfrage natürlich nie leicht, aber wenigstens die Prozedur ist einfach: Die Geschworenen müssen alle einstimmig zu der Auffassung gelangen, dass der Angeklagte „jenseits vernünftigen Zweifels“ schuldig ist.
Im Fall Spisak war das nicht weiter schwierig, da Spisak die Jury offen brüskierte, indem er sich selbst im Gerichtssaal noch mit seinen Taten brüstete.
Hinsichtlich der Festsetzung des Strafmaßes gilt jedoch seit einem Grundsatzurteil des US Supreme Court von1988 im Fall Mills, dass die Geschworenen einstimmig – und das heißt, jeder Einzelne – der Meinung sein müssen, dass die vorliegenden strafverschärfenden Umstände die strafmildernden Umstände überwiegen müssen, da die Todesstrafe nicht verhängt werden kann, wenn auch nur ein einziger Juror nicht der Meinung ist, dass die erschwerenden Umstände überwiegen. Dabei muss jeder in Betracht gezogene erschwerende Umstand in den Augen aller Juroren jenseits vernünftigen Zweifels vorliegen, während für die Einbeziehung eines mildernden Umstands eine mehr als 50-prozentige Wahrscheinlichkeit des Vorliegens genügt. Es gibt aber noch einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen erschwerenden und mildernden Umständen, denn die Geschworenen
1) müssen sich über jeden einzelnen strafverschärfenden Umstand einstimmig einig sein,
2) können aber (sobald sie der Meinung sind, dass sie mit mindestens 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit vorliegen) jeder für sich strafmindernde Gründe in Betracht ziehen, die sie bei ihrer individuellen Abwägung, ob die erschwerenden oder mildernden Umstände überwiegen, mit einbeziehen dürfen.
Letzterer Punkt ist es, der den Fall des schwarzen Revolutionärs Mumia Abu-Jamal mit dem des weißen Reaktionärs und Neonazis Frank Spisak verbindet. Im einen wie im anderen Fall wurde die Jury nicht über diese alles andere als unerhebliche – da potentiell über Leben und Tod entscheidende – Feinheit aufgeklärt.

Die Fälle Spisak und Abu-Jamal – gleich oder unterschiedlich?
In seiner Entscheidung zum Fall Spisak im Januar 2010 war der US Supreme Court zu dem Schluss gekommen, dass beide Einwände Spisaks gegen sein Todesurteil – verheerendes Plädoyer des Verteidigers, mangelhafte Aufklärung der Jury über die Beurteilung mildernder Umstände – nicht stichhaltig seien und gaben den Weg zu seiner Hinrichtung frei. Sein Rendezvous mit der tödlichen Giftspritze ist auf den 17. Februar 2011 angesetzt.
Unmittelbar nach seiner Entscheidung im Fall Spisak kam die Entscheidung des US Supreme Court zur Rückverweisung des Falls von Abu-Jamal an das nächstuntere Gericht, das 3. Bundesberufungsgericht. Da er in der Frage der mangelhaften Belehrung der Jury über mildernde Umstände gegen Spisak entschieden habe, so der Supreme Court, müsse das niedrigere Gericht auch seine Entscheidung für Abu-Jamal in diesem Punkt jetzt neu untersuchen.

Insgesamt springen die Unterschiede zwischen beiden Fällen in die Augen.
Zum einen hatte Abu-Jamal während seines Prozesses, noch kurz bevor das Todesurteil gegen ihn fiel, unzweideutig auf seiner Unschuld bestanden, vollkommen anders als Spisak, der sich der ihm zur Last gelegten Verbrechen auch noch gebrüstet hatte.
Aus letzterem Grund wurde das Argument von Spisaks heutigen Verteidigern, sein damaliger Anwalt sei ungenügend gewesen, weil Spisaks Geisteskrankheit und psychische Probleme nicht als mildernde Umstände vor der Jury dargelegt hatte, vom Supreme Court vom Tisch gewischt. Das Verhalten Spisaks vor Gericht, so die Richter des US Supreme Court, sei so monströs gewesen, dass auch beim bestdenkbaren Verteidiger der Welt kein anderer Ausgang auch nur potentiell zu erwarten gewesen wäre.

Die Argumente im Gerichtssaal
Wie oben schon erwähnt, gibt es aber noch einen weiteren Unterschied, und dieser war es, über den am 9. November in den Heiligen Hallen des 3. Bundesberufungsgerichts unter strikter Wahrung des Protokolls und Einhaltung aller Höflichkeitsformeln gerechtet wurde.
Die Verhandlung begann mit einem 20-minütigen Vortrag von Staatsanwalt Hugh Burns, der bald von zahllosen Fragen des wie im Mai 2007 aus den Richtern Thomas Ambro, Anthony Scirica (Vorsitzender) und Robert Cowen bestehenden dreiköpfigen Richterkollegiums unterbrochenen wurde. Einziges Thema dieses Vortrags war der Versuch, nachzuweisen, dass zwischen den Juryanweisungen über mildernde Umstände im Fall Spisak und im Fall Abu-Jamal keinerlei wesentliche Unterschiede bestehen.
Die Richter erweckten nicht den Eindruck, als seien sie von den Argumenten des Anklägers sonderlich überzeugt, und besonders die Fragen und Kommentare der Richter Ambro und Cohen erweckten sogar stark den Eindruck, als sei das Gegenteil der Fall.

Mumia Abu-Jamals Verteidigerin Judith Ritter
Danach legte Mumia Abu-Jamals Verteidigerin Judith Ritter überzeugend dar, dass die Jury in Spisaks Fall lediglich nicht darüber belehrt worden sei, dass zur Berücksichtigung mildernder Umstände keine Einstimmigkeit der Geschworenen erforderlich ist, während der Jury im Fall ihres Mandanten geradezu eingeschärft wurde, sie müsse in allen Aspekten ihrer Strafmaßfindung einstimmig vorgehen.
Auch Ritter musste sich den skeptischen Fragen der Richter aussetzen, aber nach Ansicht etlicher Beobachter schlug sie sich dabei wesentlich besser als Burns, und zwar nicht nur, weil sie ganz offensichtlich exzellent vorbereitet war, sondern auch deshalb, weil die Rechtslage zu ihren Gunsten und zu Gunsten Abu-Jamals zu sprechen scheint. Dabei ist eines der wichtigsten Argumente für die Position Abu-Jamals ein dreiseitiges Stück Papier: das Juryformular von damals.
Im schriftlichen, der Jury in diesem Fall ausgehändigten Formular zur Festsetzung des Strafmaßes stellt die Jury erst fest, dass sie den Angeklagten des Mordes ersten Grades für schuldig befunden hat und trifft dann zweierlei Feststellungen:
1) „Wir, die Jury, verurteilen den Angeklagten einstimmig zum Tod“, und 2) „Wir, die Jury, sind uns einstimmig einig über das Vorliegen a) eines oder mehrerer erschwerender Umstände, die sämtliche mildernden Umstände aufwiegen. Der erschwerende Umstand ist/die erschwerenden Umstände sind [siehe Anlage]. Der mildernde Umstand ist/die mildernden Umstände sind [siehe Anlage]“

Die Geschworenen
Bei Abu-Jamal ist von den 10 aufgeführten erschwerenden Umständen der erste (das Opfer war ein Polizist) und von den 8 erwähnten mildernden Umständen ebenfalls der erste (keine Straftaten) angekreuzt. Am Ende des dreiseitigen Formulars stehen die Unterschriften aller 12 Geschworenen: Ganz eindeutig gibt es nicht einmal die Möglichkeit für irgendeinen Juroren, individuell einen Milderungsumstand anzukreuzen, der von der Meinung der anderen Geschworenen abweicht. Und das ist, laut dem 22 Jahre alten Urteil des US Supreme Court im Fall Mills, rechtswidrig. In ihren Reaktionen auf die abschließenden Bemerkungen von Staatsanwalt Burns, dem als Beschwerdeführer das letzte Wort zustand, schienen das auch die Richter des 3. Bundesbezirksgerichts so zu sehen, auch wenn der äußere Eindruck – in diesem Fall von vielen Beobachtern, mit denen der Verfasser gesprochen hat, geteilt – immer mit Vorsicht zu genießen sind.

Politik versus geltendes Recht
Wenn die Dinge so offensichtlich sind, drängt sich die Frage auf: Warum dann das ganze Spektakel? Doch genau hier liegt der Hund im Fall Mumia Abu-Jamals begraben. Schon im Jahr 2000 kam Amnesty International nach einer intensiven Untersuchung des Mordprozesses gegen Abu-Jamal zu der Schlussfolgerung, dass das gesamte Verfahren einschließlich der Frage von Schuld oder Unschuld neu aufgerollt werden müsse, um zu einem gerechten Urteil zu kommen.
Die Urteile aller Berufungsgerichte, die Abu-Jamal bisher angerufen hat, haben, begonnen mit der Ablehnung seiner ersten Berufung 1989, alle rechtlich wohlbegründeten Anträge auf einen neuen Prozess und – mit Ausnahme der positiven Entscheidungen von 2001 und 2008 – auch auf Aufhebung seines Todesurteils abgelehnt, obwohl sie die entsprechenden Anträge anderer Gefangener bewilligten. Wir haben es hier mit Politik, nicht mit Recht, oder vielleicht besser gesagt mit der Politik des Rechts zu tun.
Wenn man verstehen will, warum die Behörden in Philadelphia auch heute noch, fast dreißig Jahre nach der Tötung des Polizeibeamten Daniel Faulkner, regelrecht versessen darauf sind, Mumia Abu-Jamal endlich aus der Todeszelle in die Hinrichtungskammer zu bringen, muss man sich einmal die Leserbriefe zur Presseberichterstattung in den dortigen Medien ansehen: Dort tobt sich der Hass auf alles aus, was nicht weiß, unterprivilegiert und irgendwie nichtkonform mit dem Status Quo ist – also alles, für das Mumia Abu-Jamal in seiner Tätigkeit als Journalist immer gestanden hat.
Wie bei der Tea Party-Bewegung macht sich das herrschende Amerika der Konzerne und der beiden Monopolparteien die Verwirrung und Wut der verängstigten weißen Mittel- und Arbeiterschicht über ihre immer schlechtere Lage zu Nutze, indem es sie auf alles vermeintlich Andersartige lenkt, um dieses dann einem hysterisch gewordenen Mob zum Fraß vorzuwerfen.
Und wer repräsentiert diese Andersartigkeit eindrücklicher als jemand wie Abu-Jamal, der nicht nur schwarz ist und aus den bettelarmen „Projects“ in Nordphiladelphia stammt, sondern auch als Pressesprecher der Black Panther Party in Philadelphia Teil der militanten schwarzen Befreiungsbewegung der sechziger und siebziger Jahre war und bis heute selbst aus der Todeszelle heraus noch intensive journalistische Arbeit für diese Anliegen leistet? Vor diesem Hintergrund kann man sich selbst jetzt nicht darauf verlassen, dass die drei Richter in Philadelphia Abu-Jamal wenigstens in punkto Aufhebung der Todesstrafe Recht geben, auch wenn es rein rechtlich gesehen noch so klar scheint, dass sie das tun müssten. Das komplizierte und kafkaeske Glasperlenspiel darum, was bestimmte Formulierungen in den Anweisungen an die Jury über mildernde Umstände wohl genau bedeutet haben mögen, und ob der Angeklagte deswegen leben darf oder sterben muss, wird mit Sicherheit nicht allein in der Zurückgezogenheit richterlicher Hinterzimmer entschieden.

Plötzlich wurde wieder klar, dass wir alle nicht wegen eines Kommas hier oder da in einem legalistischen Glasperlenspiel hier waren, sondern weil das Leben eines Menschen auf dem Spiel steht. Werfen wir daher nun all unsere öffentliche Kraft dafür in die Waagschale, dass das Bundesberufungsgericht dem Antrag der Anklage auf Hinrichtung Mumia Abu-Jamals nicht stattgibt. Denn solange wir die Hinrichtung Mumias verhindern können, wird es auch immer noch möglich sein, am Ende auch seine Freilassung durchzusetzen. Die Verteidigung – nunmehr vertreten durch Judith Ritter und nicht mehr den bisherigen Hauptanwalt Robert Bryan (mehr zu diesem Thema unter http://www.labournetaustria.at/IntwSchiffmann101113b.htm) – hat eine private Ermittlerfirma beauftragt, die kriminaltechnischen Beweise für Abu-Jamals Unschuld neu zu untersuchen und dann vor Gericht vorzulegen, um doch noch einen neuen Prozess zu erzwingen. Auch hier ist also noch nicht das letzte Wort gesprochen, ebenso wie in diesem Artikel auf viele andere, selbst wichtige Fragen zu den juristischen Details nicht eingegangen werden konnte. Aber diese sind letztlich trotz aller Ausführlichkeit, mit der sie hier behandelt wurden, auch nicht entscheidend.

Solidaritätsveranstaltungen für Mumia Abu-Jamal:
Donnerstag, 9.12., 19.30 Uhr, Kaiserslautern, Roachhouse, R.Wagnerstr.78 (Hinterhaus), KL
„Welcome to Hell – Zu Besuch bei Mumia Abu-Jamal“
Diashow – Erlebnisbericht – Aktuelle Informationen
Mit Michael Schiffmann (Heidelberger Mumia-Soli-Gruppe)
Demo in Berlin am 11. Dezember, siehe http://www.mumia-hoerbuch.de/termine.htm
Veranstaltungen in der Schweiz mit Anton Reiner und Michael Schiffmann:
3. Januar 2011 in der Villa Rosenau in Basel: http://rosenau.no-ip.org
4. Januar 2011 Kulti Wetzikon (30 km von Zürich): http://www.kulturfabrik.ch
5. Januar 2011 Infoladen Bern:
http://www.infoladen-bern.ch/reitschule/infoladen/index.html

(PK)

Michael Schiffmann