POLIZEIGEWALT»Ich schieß’ dir in den Kopf«

Frankreich: Polizei in Nanterre tötet Jugendlichen. Ausschreitungen in Pariser Vorort

Nach der Ermordung des 17jährigen Naël durch einen Polizisten in Nanterre sind in ganz Frankreich heftige Proteste ausgebrochen. Die Unruhen begannen am Dienstag abend vor der Polizeiwache in dem Pariser Vorort und breiteten sich in der Nacht auf benachbarte Viertel aus. Barrikaden wurden errichtet und Einsatzkräfte mit Feuerwerkskörpern attackiert. In Mantes-la-Jolie, einer der ärmsten Gemeinden im Großraum Paris, wurde das Rathaus in Brand gesteckt. Die Polizei setzte Tränengas und Gummigeschosse ein, musste sich jedoch angesichts der anhaltenden Angriffe am frühen Morgen aus den Banlieues zurückziehen. Mindestens 31 Personen wurden laut Behördenangaben festgenommen.

Naël, der in Nanterre zur Schule ging und nebenbei als Pizzalieferant arbeitete, um seine Mutter zu unterstützen, plante nach seinem Abitur eine Ausbildung zum Kfz-Mechaniker zu beginnen. Am Dienstag morgen endete sein Leben, als er in eine Polizeikontrolle geriet.

Eine Motorradstreife stoppte das Auto, in dem sich Naël mit zwei weiteren Personen befand. Ein von Sender France Info verifiziertes Video zeigt, wie ein Beamter seine Waffe auf Höhe der Fahrertür auf das stehende Auto richtet. Als der Polizist plötzlich »Ich schieße dir in den Kopf« ruft, fährt Naël los, der Beamte feuert aus nächster Nähe auf den Jugendlichen und trifft ihn tödlich in die Brust. Einer Frau, die daraufhin empört auf die Polizisten zuläuft, ruft einer der Beamten: »Geh zurück nach Afrika!«

jW-Shop: Lea Grundig
Nach Angaben von Innenminister Gérald Darmanin vom Mittwoch hat die Polizeiaufsicht nun Ermittlungen aufgenommen, um den Vorfall aufzuklären. Für den Beamten und seinen Kollegen gelte vorerst die Unschuldsvermutung, betonte der Minister, der am Morgen 2.000 Einsatzkräfte in die Pariser Banlieues schickte, »um die Lage zu beruhigen«.

Dem Soziologen Sebastian Roché zufolge ist die französische Polizei mittlerweile »die tödlichste in Europa«. Das ist in erster Linie auf die zunehmende staatliche Repression in den vergangenen Jahren zurückzuführen. Unter dem Sozialdemokraten François Hollande wurden 2017 die Regeln für den Einsatz von Schusswaffen durch die Polizei gelockert. Beamte erhielten die Befugnis zu schießen, sobald sie eine »Verweigerung des Gehorsams« feststellten. Präsident Emmanuel Macron brachte 2020 und 2022 »Sicherheitsgesetze« auf den Weg, die die Befugnisse der Polizei erweiterten. Seitdem ist die Anzahl der durch Polizisten Getöteten um das Fünffache gestiegen. Allein im vergangenen Jahr wurde durchschnittlich jeden Monat eine Person während einer Autokontrolle wegen »Gehorsamsverweigerung« erschossen. Fast immer handelte es sich bei den Opfern um nichtweiße Menschen aus sogenannten benachteiligten Vierteln.

Der Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon forderte am Mittwoch, die Polizei müsse »komplett neu gegründet und die Mörder bestraft werden«. Auch Fußballsuperstar Kylian Mbappé reagierte auf den Tod des 17jährigen. »Mein Frankreich tut mir leid. Eine inakzeptable Situation. Alle meine Gedanken gelten Naëls Familie und seinen Lieben, diesem kleinen Engel, der viel zu früh gegangen ist«, twitterte der 24 Jahre alte Stürmer von Paris Saint-Germain.

Naëls Mutter hat für diesen Donnerstag zu einem Trauermarsch in Nanterre aufgerufen. »Lasst uns eine Revolte für meinen Sohn organisieren«, sagte sie in einem auf Tik Tok geposteten Video am Mittwoch.


junge Welt 29.9.23