REPRESSIONEN GEGEN PALÄSTINENSER»Die Nakba hat nie aufgehört«

Berliner Polizei verbietet propalästinensische Demonstrationen wegen Generalverdachts. Ein Gespräch mit Qassem Masri
Interview: Jakob Reimann junge Welt 24.4.23
Qassem Masri ist Aktivist bei »Palästina spricht«, einer Koalition für palästinensische Rechte und gegen Rassismus

Im April hat die Berliner Polizei zwei propalästinensische Demonstrationen verboten. Wie wurde das begründet?

Offiziell heißt es von seiten der Polizei, sie hätte Angst, dass es bei den Demos zu antisemitischen Aussagen kommen könnte. Es wird also von der Zukunft in die Gegenwart hinein geurteilt. Das macht sie daran fest, dass sich bei der Demo am 8. Mai in Berlin eine Person antisemitisch geäußert hat. Die Aussage einer einzelnen Person reicht anscheinend aus, um eine gesamte Minderheit in Deutschland zu diffamieren und mit dem Stempel des Antisemitismus zu brandmarken. Doch der eigentliche Hintergrund ist, die wachsende Solidarität mit der palästinensischen Sache zu unterbinden.

Wie bewerten Sie dieses Vorgehen?

Mit der verfassungswidrigen Vorgehensweise der Berliner Polizei sind wir wieder einmal an der Spitze des antipalästinensischen Rassismus angelangt. Mit dem Verbot der Demonstrationen werden die Grundrechte der Palästinenser in Deutschland beschnitten, da das Demonstrationsrecht natürlich im Grundgesetz verankert ist. Es ist eine weitere repressive, antidemokratische und rassistische Maßnahme der Berliner Polizei.

Literatur-Beilage morgen
Das Verbot der beiden Demos erinnert an Steven Spielbergs Science-Fiction-Dystopie »Minority Report« von 2002, in der potentielle künftige Verbrechen im Vorfeld durch die Staatsgewalt sanktioniert werden. Wie beurteilen Sie die Verbote in Hinblick auf die sogenannte liberale Demokratie in Deutschland?

Es ist praktisch eine Aushebelung dieser »liberalen Demokratie«. Doch es ist nicht verwunderlich, denn so etwas hat in Deutschland Tradition. Es gibt den Begriff des »Gefährders«. Ein Mensch also, der von den Behörden so eingeschätzt wird, dass er eventuell etwas begehen könnte, was nicht im Sinne dieses Staates ist, obwohl keine Beweise für ein antidemokratisches oder illegales Handeln dieser Person vorliegen. Die rassistischen Motive dieses Staates sind stark. Seit dem 11. September 2001 wurden im Grunde alle muslimischen Bürger in diesem Land unter Generalverdacht gestellt. Und dasselbe passiert gerade mit den Palästinensern.

In einem offenen Brief verurteilten jüngst 100 jüdische und israelische Persönlichkeiten aus Berlin die Demoverbote als »diskriminierend gegenüber der palästinensischen Minderheit«. Wie werten Sie diese Solidarität?

Wir kooperieren mit jüdischen antizionistischen Gruppen in Deutschland, und wir begrüßen deren Solidarität natürlich sehr. »Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker«, wie schon Che Guevara sagte. Doch die jüdischen Aktivistinnen, die an unserer Seite gegen diese repressiven Maßnahmen kämpfen, werden von diesem Staat mit dem gleichen Stempel des »Antisemitismus« diffamiert. Die »liberale Demokratie« ist dahingehend degeneriert, dass der Staat, der die Großeltern dieser jüdischen Aktivisten umgebracht hat, nun den Enkelkindern der Holocaustopfer vorwirft, antisemitisch zu sein. Jüdische Aktivistinnen werden boykottiert, angegriffen, verleumdet und als »antisemitisch« beschimpft – und das in dem Land, das den eliminatorischen Antisemitismus erst erfunden hat. Das ist eine surreale Welt, in der wir uns befinden.

Am 14. Mai wird in Israel der 75. Jahrestag der Staatsgründung gefeiert. In Palästina gedenkt man hingegen der Hunderttausenden, die zur »Nakba«, Katastrophe auf Arabisch, 1948 vertrieben wurden. Was planen Sie hier in Berlin zu diesem Ereignis?

75 Jahre sind das mittlerweile, die Zahl muss man erst einmal verdauen. Denn ihre Gründungsfeier ist unsere Todesfeier. 75 Jahre später stehen wir an derselben Stelle: Die Nakba hat nie aufgehört, es ist ein andauernder Prozess. Nach wie vor werden in Masafer Yatta und anderen Orten im Westjordanland Menschen vertrieben, wird Land gestohlen. Der sogenannte Status quo ist ein anhaltender Prozess der ethnischen Säuberung. Zum Jahrestag planen wir eine Reihe von Demos, Diskussionen, Panels und auch eine Filmvorführung. Ob diese stattfinden können, steht in den Sternen. Wenn die Events verboten werden sollten, werden wir nicht riskieren, dass Menschen verhaftet oder körperlich angegriffen werden, so wie im letzten Jahr. Die Polizei hatte damals die grandiose Idee, alle »palästinensisch aussehenden« Menschen zu verhaften, teilweise auch mit Gewalt. Ich befürchte, dass es in diesem Jahr ähnlich wird.

https://www.jungewelt.de/artikel/449422.repressionen-gegen-palästinenser-die-nakba-hat-nie-aufgehört.html