Stellungnahme zum Beweisantrag des Berliner Angeklagten im Antifa Ost Verfahren

Wir sind die Soligruppe des Berliner Angeklagten im Antifa Ost Verfahren, der in einem früheren Verfahren als “Nero” aufgetreten ist. Bis jetzt haben wir uns nicht öffentlich dazu geäußert, wer wir sind und warum wir trotz des öffentlich kritisierten Verhaltens unseres Gefährten in der Vergangenheit Soliarbeit leisten. Das haben wir jetzt in diesem Text dargestellt: (LINK)

Hier möchten wir unser Vorgehen in dem laufenden Gerichtsprozess erklären.
Am Mittwoch, den 16.03.22, haben unsere Anwält*innen einen Beweisantrag am OLG Dresden eingereicht. Hierbei geht es um Erkenntnisse, welche die Repressionsbehörden durch ihre Überwachungsmaßnahmen in dem Berliner §129 Verfahren erlangt und bis jetzt verschwiegen haben. Diese schließen die vorgeworfene Tatbeteiligung des Berliner Angeklagten aus.

Kurz zum Hintergrund und der Verstrickung des Berliner §129 Verfahrens:
In dem §129 Verfahren Berlin//Athen sind derzeit sieben Personen beschuldigt. Ihnen wird neben vielem Anderen, die Vorbereitung der Riots in der Elbchaussee während des G20 Gipfels in Hamburg vorgeworfen. Im Rahmen der Ermittlungen wurden die Beschuldigten massiv überwacht in Form von: Observationen, abgehörten Telefongesprächen, Kameras vor den Hauseingängen und Innenraumüberwachung von Fahrzeugen. Ein abgehörtes Gespräch im Auto hat entschieden dazu beigetragen, dass der Gefährte, der in dem Berlin Verfahren als Beschuldigter geführt wird, dann auch in dem Dresdner §129 Verfahren angeklagt wurde.
Die Bundesanwaltschaft (GBA) führt beide §129 Verfahren, wobei im Antifa Ost Verfahren die Ermittlungsarbeit vom sächsischen LKA/SokoLinx und im Berliner Verfahren vom BKA übernommen wurde.
So weit zum Hintergrund. Für mehr Informationen verlinken wir am Ende die dazu bereits veröffentlichten Texte.

An dieser Stelle wollen wir noch kurz auf zwei Institutionen des deutschen Staatsschutzes eingehen: die Bundesanwaltschaft und das Bundeskriminalamt.

Die Bundesanwaltschaft und das ihr zuarbeitende Bundeskriminalamt (BKA) repräsentieren wie kaum andere Institutionen den Repressionsapparat des deutschen Staates. Ziel und Funktion dieser Behörden ist die Unterdrückung von Widerstand und die Verfolgung von allen, die sich der herrschenden Ordnung entgegenstellen. Wie alle staatlichen Repressionsbehörden sind sie keine neutralen Instanzen und waren es auch nie.

Die Bundesanwaltschaft wurde in der unmittelbaren Nachkriegszeit von Juristen des ehemaligen NSDAP-Machtapparats aufgebaut, die sich bis ins Pensionsalter großzügig gegensätzlich Posten zu schoben. 1966 waren zehn von damals elf Bundesanwälten ehemalige NSDAP-Mitglieder. Darunter zum Beispiel Wolfgang Immerwahr Fränkel. Er war schon zu Hitlers Zeiten Staatsanwalt gewesen und hatte als solcher in 50 Fällen die Todesstrafe beantragt. Einer fetten Pension bis zu seinem Tod im Jahr 2010 stand das selbstverständlich nicht im Weg.

Das gleiche gilt für das BKA. Dieses wurde nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von den ehemaligen SS-Mitgliedern Paul Dickkopf und Rolf Holle aufgebaut. Entsprechend entspannt war der Umgang mit Nazis in den Chefetagen. Noch 1959 waren zwei Drittel der Beamten im BKA-Führungspersonal ehemalige SS-Mitglieder, drei Viertel gehörten zuvor der NSDAP an. Nach Dickkopf wurden nach seinem Tod 1971 Straßen benannt und Innenminister Genscher nannte ihn „ein Vorbild für die gesamte deutsche Polizei“.

Zwar sind die Nazis, die Bundesanwaltschaft und BKA gegründet haben, inzwischen längst unbehelligt in Rente oder endlich tot, trotz der vielen gegenteiligen Lippenbekenntnisse sind die deutschen Sicherheitsbehörden aber auch heute noch von Nazis durchsetzt. Von NSU 2.0, über die endlos vielen Einzelfälle mit Nazichats, bis zur regelmäßigen Weitergabe von Ermittlungsinterna an aktive Nazistrukturen (wie auch im Antifa Ost Verfahren an Compact) – die ideologischen Kontinuitäten der tiefbraunen Wurzeln dieser Behörden ziehen sich wie ein roter Faden bis heute durch ihre Geschichte.
Das ist der „Rechtsstaat“ von dem Politiker*innen bei jeder Gelegenheit rumposaunen, dass er sich gefälligst durchzusetzen habe.
Die Geschichte dieser Behörden ist, genauso wie ihr Handeln heute, für uns der beste Beweis, dass militanter Antifaschismus, der auf diesen Rechtsstaat scheißt, richtig und notwendig ist.

Vor einigen Wochen entdeckten unsere Anwältinnen beim erneuten Studieren der Akten des Berlin//Athen Verfahrens Ermittlungsgegenstände, die im aktuellen Verfahren bisher keine Rolle spielten. Dem Berliner Angeklagten wird im Antifa Ost Verfahren, wie allen anderen, vorgeworfen, Mitglied einer kriminellen Vereinigung zu sein und im Speziellen die konkrete Tatbeteiligung an einer Aktion: dem Angriff auf die Kneipe Bull’s Eye in Eisenach. Die Akten aus dem Antifa Verfahren selbst geben diesbezüglich wenig her. Das Berliner Verfahren dagegen schon, wie die Anwältinnen jetzt heraus fanden.
Zum einen zeigt die Videoüberwachung seiner Haustür, wie er ca. vier Stunden vor der angegebenen Tatzeit und ca. vier Stunden danach das Haus verlässt, beziehungsweise betritt. Also kaum genug Zeit um nach Eisenach und zurück zu kommen und noch einen Kneipenbesuch dazwischen zu schieben. Zum anderen dokumentiert die Ermittlungsakte abgehörte Telefongespräche, in denen sich der Angeklagte eine Stunde vor der Aktion mit weiteren Personen darüber unterhält, wo sie sich gleich treffen könnten. Dieses Gespräch fand offensichtlich in Berlin statt.
Diese Erkenntnisse machen es äußerst unwahrscheinlich, dass der Angeklagte an dieser Aktion beteiligt gewesen sein kann. Der Bundesanwaltschaft war beides bekannt, sie entschied sich aber dafür, diese entlastenden Hinweise zu unterschlagen, während sie anderes, vorgeblich belastendes Material aus dem Berlin//Athen Verfahren natürlich bereitwillig weiter gegeben hatte und verwendet.

Es gab bereits ein Statement des Solidaritätsbündnis Antifa Ost und der Anwältinnen sowie einige Presseartikel, die sich an eine breite Öffentlichkeit gewandt haben. Mit diesem Text wollen wir euch, den solidarischen Menschen, Gefährtinnen, Genossinnen und Freundinnen, erläutern, warum wir uns dazu entschieden haben, diese Erkenntnisse im Rahmen eines Beweisantrages in das Antifa Ost Verfahren einzubringen.

Wir wollen deutlich machen, dass wir das nicht veröffentlichen, um eine Unschuldskampagne für den Berliner Angeklagten zu starten. Wir sprechen ohnehin nicht über schuldig oder unschuldig. Militanter Antifaschismus ist notwendig und legitim.
Es gab bis heute von den Angeklagten keine Verlesung vor Gericht oder Texte außerhalb davon, zu ihrer politischen Herangehensweise an das Verfahren. In der Folge wird, neben Solierklärungen und einigen Demonstrationen, dieses Verfahren zur Zeit vor allem juristisch geführt. Die Arbeit der Anwältinnen wurde selten politisch und öffentlich begleitet. Das heißt für uns – als Soligruppe eines und letztendlich aller Angeklagten – die Gratwanderung gemeinsam durch zu machen: Auf der einen Seite den Staat, seine Repräsentantinnen und Gesetzesbücher abzulehnen und anzugreifen und auf der anderen Seite unsere Gefährt*innen bestmöglich davor zu bewahren, geschnappt, verurteilt oder gar in den Knast gesperrt zu werden.

Wir wollen nicht in die Falle der Skandalisierung von Repression und gleichzeitiger Viktimisierung unserer Gefährtinnen tappen und damit Gefahr laufen, eigene politische Ziele zu verraten. Gleichzeitig wollen wir öffentlich machen, mit welchen Mitteln die Repressions- und Sicherheitsbehörden weiterhin Antifaschistinnen verfolgen und militanten Antifaschismus als Terrorismus diffamieren.
Wir glauben, dass viele Menschen harte Fakten und konkrete Beispiele brauchen, um ihren Glauben an den Staat ins Wanken zu bringen. Wir wollten nicht einfach auf unseren Erkenntnissen und Erfahrungen mit Gerichtsverfahren sitzen bleiben, beziehungsweise diese nur in unserem eigenen Wirkkreis teilen können.

Ob wir wollen oder nicht, mit der Eröffnung des Verfahrens und Linas langwährender Inhaftierung ist auch der Gerichtssaal zu einem Ort unserer Auseinandersetzung mit dem Staat geworden. Diesen Ort haben wir uns nicht selbst ausgesucht und es gäbe sicherlich auch andere Formen des Umgangs mit einem Gerichtsprozess. Auch wir halten daran fest, dass angeklagte Genoss*innen vor Gericht zur Sache schweigen und lehnen es ab, die Legitimität eines Gerichts anzuerkennen. Das heißt für uns jedoch nicht, einfach kommentarlos alles über sich ergehen zu lassen, was Gericht und Bundesanwaltschaft dort fabrizieren. Bis jetzt haben sich die Angeklagten, sowie wir als Solistruktur relativ passiv verhalten. Viel Zeit und Energie ist von etlichen Einzelpersonen und Gruppen in Strukturarbeit und die Begleitung vor Gericht geflossen.
Auch wenn dies jetzt wieder ein juristischer Schachzug ist, erhoffen wir uns doch auch einen Moment zu kreieren, in dem wir eine gewisse Kontrolle und Wirkmacht über den weiteren Verlauf des Verfahrens, aber auch bezüglich der Begleitung dessen von außen wieder erringen können. Ob das funktioniert, liegt natürlich an uns, sowie an solidarischen Menschen um uns herum.
Der Ausgang dieses Verfahrens wird möglicherweise ein Präzedenzfall für kommende Repressionsschläge werden, daher besteht für uns alle die Notwendigkeit dieses zu begleiten.

Die Entscheidung auf das bislang unterschlagene Alibi des Gefährten zurückzugreifen, wurde mit Freundinnen und Gefährtinnen diskutiert, letztendlich aber von uns als Soligruppe getroffen.
Dass durch ein solches Alibi die Wahrscheinlichkeit einer erneuten langjährigen Haftstrafe unseres vorbestraften Gefährten deutlich reduziert wird, hat natürlich einen großen Einfluss auf unsere Überlegungen gehabt. Bei allen politischen Argumentationen und Prinzipien wollen wir nicht ignorieren oder verschweigen, dass wir auch ein emotionales Interesse daran haben, weder Lina noch irgendwen anders im Knast zu sehen.
Solche Überlegungen können selbstverständlich nicht um jeden Preis die Soliarbeit und Prozessstrategie bestimmen, oder wir verlieren damit irgendwann mehr als wir zu gewinnen hoffen. Vor diesem Hintergrund ist uns bewusst, dass gerade hinsichtlich eines Alibis, einige Gefährtinnen unser Vorgehen kritisieren oder noch kritisieren werden. Wir selbst sehen uns nicht im Widerspruch zu grundlegenden Ansprüchen an eine politische Prozessführung. Weder werden den Behörden weitere Erkenntnisse über Personen, Strukturen oder Aktionen geliefert, andere direkt oder indirekt belastet, noch versucht, sich von irgendeiner der angeklagten Taten zu distanzieren. Was wir versuchen ist eigentlich auch nicht der Beweis einer eventuellen Unschuld des Angeklagten, sondern die bestmögliche Sabotage des von Bundesanwaltschaft und OLG aufgeführten Theaterstücks, das auf eine Verurteilung der vier Angeklagten abzielt. Dafür bedienen wir uns dann auch juristischer Mittel. Dass im Rahmen politischer Prozesse, solidarische Verteidigerinnen vor Gericht alle Aspekte der Anklage auf Widersprüche untersuchen, fehlende Beweise herausarbeiten und die Glaubwürdigkeit von Belastungszeuginnen untergraben ist gängige und – angesichts der aktuellen Kräfteverhältnisse – notwendige Praxis. Unser Beweisantrag unterscheidet sich von diesem Vorgehen nicht. Dass er sich in seiner Wirkung (als faktisches Alibi) von den uns und unseren Anwältinnen sonst zur Verfügung stehenden Mitteln unterscheidet, liegt einzig und allein daran, dass die Bundesanwaltschaft dieses Mal so blöd war, ihre Lüge selbst in die Akten zu schreiben.

Die belegte Unterschlagung von Beweismitteln wirft ein Schlaglicht auf den politischen Charakter der Bundesanwaltschaft und deren jahrzehntelange Bedeutung für die Verfolgung von Genossinnen. In welcher Feindschaft wir zu ihr zu stehen haben, kann nicht genug betont werden. Diesen Charakter immer wieder zu thematisieren und auch erneut schwarz auf weiß zu dokumentieren, hat unserer Ansicht nach einen gewissen politischen Wert. So wie es einen politischen Wert für uns alle hätte, würde das Antifa Ost Verfahren in zentralen Anklagepunkten scheitern. Angesichts der staatlichen Propaganda, die das Verfahren seit der ersten Inhaftierung von Lina prägt, existiert ein großer Druck auf OLG und Bundesanwaltschaft, den Worten ein entsprechendes juristisches Ergebnis, sprich: mehrjährige Haftstrafen, folgen zu lassen. Das Solidaritätsbündnis Antifa Ost hat in seinen Stellungnahmen immer deutlich gemacht, mit welchem unbedingten Verurteilungswillen der Prozess angelegt wurde und geführt wird. Vor diesem Hintergrund halten wir es auch weiterhin für denkbar, dass das Gericht auch trotz Alibi noch irgendeinen Weg finden könnte, unseren Gefährten zu einer Haftstrafe zu verurteilen. Denn auch der Großteil, der gegen die anderen Angeklagten ins Feld geführten Indizien, unterscheidet sich nicht sonderlich von denen, die dem Gericht bis jetzt ausgereicht hätten, um den Berliner Angeklagten für mehrere Jahre in den Knast zu stecken. Dass es auch bei diesem Prozess trotz aller Juristerei letztendlich weniger um Beweisführungen, als um die Bestrafung und Abschreckung von Antifaschistinnen geht, bleibt für uns eindeutig.

Die Entscheidung obige Beweise einzuführen, haben wir nicht leichtfertig getroffen. Die Verantwortung, eine Entscheidung treffen zu müssen, hat uns einerseits verunsichert. Gleichzeitig wollten und konnten wir uns dieser nicht entziehen, da es ebenso eine Entscheidung – in Bezug auf die, in beiden Fällen, unklaren Konsequenzen für den Gefährten – bedeutet hätte, die Erkenntnisse nicht einzubringen.

Wir wollen noch einen letzten Punkt klar stellen, der möglicherweise für Irritation gesorgt hat: Der von unserer Verteidigung geschriebene Beweisantrag sagt, dass wir als weiteren Beweis, das Auslesen des besagten Handys (Geodaten) ermöglichen würden. Diese Aussage beruht auf interner Misskommunikation und es steht und stand zu keinem Zeitpunkt zur Debatte, dass wir die Verschlüsselung irgendeines beschlagnahmten Datenträgers aufheben.

Über die Legitimität und Zielsetzung antifaschistischer Aktionen entscheidet kein deutsches Gericht, sondern die antifaschistische Bewegung!

Freiheit für Lina!

Soligruppe eines Berliner Angeklagten

Links:
(Athen) Erklärung zum „Berliner §129 Verfahren“: https://de.indymedia.org/node/104881
Update: Zum §129 Verfahren in Berlin//Athen: https://de.indymedia.org/node/136024
HardFacts zu den Durchsuchungen in Berlin/Athen im §129 Verfahren: https://kontrapolis.info/586/
Solidaritätsbündniss Antifa-Ost: https://www.soli-antifa-ost.org/
Pressemitteilung vom 16.03.2022 anlässlich der Unterschlagung von entlastendem Beweismaterial: https://www.soli-antifa-ost.org/pressemitteilung-vom-16-03-2022-anlaesslich-der-unterschlagung-von-entlastendem-beweismaterial/
Statement zur kriminellen Ermittlungsmethodik der Bundesanwaltschaft: https://www.soli-antifa-ost.org/statement-des-sao-buendnis-zur-kriminellen-ermittlungsmethodik-der-bundesanwaltschaft

https://kontrapolis.info/6749/