Veysel Satılmış: Es gibt nichts zu bereuen

Der kurdische Aktivist Veysel Satılmış sagt nach über vier Jahre in der JVA Stammheim: „IS-Anhänger und Nazis wurden besser behandelt. Im Prozess ging es überhaupt nicht um uns. Das Ziel war, die PKK in Europa zu diskreditieren.“

Der kurdische Aktivist Veysel Satılmış ist einer von fünf Betroffenen, die aufgrund von Aussagen eines Kronzeugen vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart nach zweijähriger Verhandlungsdauer im April 2021 verurteilt wurden. Nach vier Jahren und drei Monaten in Stammheim wurde er im September aus der JVA entlassen. Seine Strafe geht jedoch weiter, es wurden Auflagen angeordnet. Demnach darf Satılmış die Stadt, in der er gemeldet ist, nicht verlassen, und muss jeden Tag bei der Polizei vorsprechen.

Veysel Satılmış ist 1982 in Cewlîg (tr. Bingöl) geboren und seit seiner Jugend politisch aktiv. 2002 wurde er in der Türkei verhaftet und kam nach seiner Entlassung nach Europa. Hier setzte er sein Engagement fort, bis er im Juni 2018 in Deutschland verhaftet wurde. Den Prozess gegen ihn und die weiteren vier Kurd:innen bezeichnet er in einer Reportage von Serhat Ararat in der Tageszeitung Yeni Özgür Politika als Inszenierung gegen die PKK: „In diesem mit den unwahren Aussagen eines Kronzeugen erstellten Szenario sollten wir in Panzerglaskäfigen als gewalttätige Ungeheuer präsentiert werden. Das war das Ziel.“

Vom deutschen Staat vorbereitet, geplant und inszeniert

In Deutschland gebe es jedes Jahr Verhaftungen, in diesem Fall sei jedoch ein besonderes Konzept angewandt worden, meint Veysel Satılmış und zieht einen Vergleich zu dem großen Düsseldorfer Prozess in den Jahren 1989 bis 1993, in dem auch Gründungsmitglieder der PKK angeklagt waren: „Auch unser Prozess in Stuttgart ist vorbereitet, geplant und inszeniert worden. Die Schauspieler waren bereit, der Kronzeuge war bereit. Es wurde im Vorfeld geplant und berechnet, inwieweit der Prozessverlauf die Öffentlichkeit beeinflussen kann. Dafür gab es den Kronzeugen, er wurde eingehend auf alle Möglichkeiten vorbereitet. Für den Prozess wurde viel gearbeitet. Es lässt sich auf jeden Fall sagen, dass der deutsche Staat eine groß angelegte Vorbereitung getroffen hat.“

An Händen und Füßen gefesselt

Von seiner Festnahme bis zum Prozess sei er in verschiedener Form Druck und Angriffen ausgesetzt gewesen, erzählt Veysel Satılmış. Bei der Festnahme in Karlsruhe stürzten sich maskierte Polizisten auf ihn. Er wurde verhaftet und in die JVA Stammheim gebracht. „Seit der Festnahme bis zur Überführung ins Gefängnis am nächsten Tag waren meine Füße in Ketten und meine Hände in Handschellen, um den Rücken wurde ein Gurt gebunden. Das alles wurde mir erst im Gefängnis abgenommen“, berichtet Veysel. Eine ähnliche Prozedur habe er zu Prozessbeginn erlebt. Auch in der JVA habe eine Sonderbehandlung stattgefunden, er sei sofort isoliert worden.

„Ich kam sofort in eine Einzelzelle“

Normalerweise kämen Neuzugänge in den ersten Wochen in eine gesonderte Abteilung, bevor sie in die Zellen verteilt würden: „Bei mir war das anders, ich kam sofort in eine Einzelzelle. Überall waren Kameras installiert. Ich war ungefähr einen Monat dort. Die Tür wurde nur geöffnet, wenn das Essen kam. Das Essen war übrigens ungenießbar. Die Zelle wurde von speziellen Wächtern überwacht. Nach einem Monat holten sie mich heraus und brachten mich in eine andere Zelle.“

Veysel Satılmış bekam das Recht auf Hofgang zusammen mit anderen Gefangenen, eine Stunde täglich. Alle sozialen Aktivitäten in der JVA blieben ihm verwehrt: „Es gab zum Beispiel einen Sprachkurs und andere Angebote, aber ich wurde nicht zugelassen.“

„Früher waren in Stammheim RAF-Gefangene“

In Stammheim seien früher RAF-Gefangene gewesen, sagt Veysel Satılmış: „Dieses Gefängnis ist darauf ausgelegt, die Gefangenen psychisch fertig zu machen, sie zu vereinzeln und willenlos zu machen. Die Fenster sind so konstruiert, dass man nicht nach draußen gucken kann. Die Wächter werden speziell ausgewählt. Meine Zelle wurde jede Woche durchsucht. Ich wurde aus der Zelle geholt und in eine andere Abteilung gebracht, wo ich mich nackt ausziehen musste und durchsucht wurde. Wenn ich mich dagegen wehrte, sagten sie, das sei so angeordnet worden.“

„IS-Anhänger und Nazis wurden besser behandelt“

In seine Nachbarzelle sei ein IS-Anhänger gekommen, der von allen Angeboten in der JVA profitieren konnte: „Er wurde für das Saubermachen eingeteilt und konnte sich in allen Räumen bewegen. Morgens um sechs Uhr war für ihn Aufschluss, er musste erst abends um halb acht wieder in seine Zelle. Er verteilte sogar das Essen an die Zellen. Gleichzeitig verkaufte er Drogen, er war bereits verurteilt. Dieser kriminelle und gefährliche Typ galt jedoch nicht als Gefahr, wir stellten eine Gefahr dar. Während ich überhaupt keine sozialen Rechte hatte, konnten deutsche Nazis und dieser IS-Typ alle Rechte nutzen.“

Erniedrigende Schikane an 92 Verhandlungstagen

Seine Kriminalisierung als kurdischer Aktivist sei auch während der Verhandlungen fortgesetzt worden, sagt Veysel. Der Gerichtssaal befindet sich zwar auf dem JVA-Gelände, trotzdem wurden die Angeklagten mit einem Fahrzeug transportiert: „Wenn wir zum Gericht gebracht wurden, kamen wir in Einzelzellen im Keller unter dem Verhandlungssaal. In diesen Zellen gab es keinen körperlichen Kontakt zu unseren Anwältinnen und Anwälten. Wenn wir mit ihnen sprechen wollten, mussten wir durch eine Scheibe rufen. Eine Kommunikation war kaum möglich. Du bist da in einer winzigen Zelle, in der du dich kaum umdrehen kannst. Bei jedem Transport zum Gericht, das sich ja innerhalb des Gefängnisses befindet, wurden wir von Kopf bis Fuß durchsucht. Wenn du dagegen widersprichst, nützt es dir gar nichts. Es war eine erniedrigende Behandlung, in der die Menschenwürde nicht zählt. Es gab keine Menschlichkeit, kein Gewissen. Was dort stattfand, war eine massive Rechtsverletzung. Wir haben es an 92 Verhandlungstagen erlebt.“

„Der Öffentlichkeit sollte signalisiert werden, wie gefährlich wir sind“

Veysel erzählt, dass die Angeklagten während der Verhandlung zuerst in Glaskästen gesperrt werden sollten: „Am ersten Verhandlungstag wurde ich nicht nur in Handschellen, sondern auch mit Fußfesseln vorgeführt. Der Öffentlichkeit sollte signalisiert werden, wie gefährlich wir sind und dass wir deshalb in schusssichere Glaskäfige gesteckt werden müssen. Auch die Leute, die den Prozess beobachteten, sollten eingeschüchtert werden. Aber das hat nicht geklappt. An den ersten beiden Verhandlungstagen haben wir dafür gekämpft, dass wir aus diesen Glaskästen herauskommen. Letztendlich wurden wir herausgeholt und in den Bereich gesetzt, in dem unsere Anwältinnen und Anwälten waren.“

„Wir wurden nie allein gelassen“

Seine Bekannten und Verwandten seien teilweise 500 Kilometer gefahren, um am Prozess teilnehmen zu können, sagt Veysel. Begrüßungen im Gerichtssaal waren jedoch verboten, auch Augenkontakt war unerwünscht. Alles sei auf Abschreckung ausgerichtet gewesen: „Aber weder die Panzerglaskäfige noch die repressive Atmosphäre haben uns oder die Prozessbeobachter einschüchtern können. Die Solidarität war sehr schön, wir sind nie allein gelassen worden.“

Das Ziel war die Diskreditierung der PKK in Europa

„In den Kronzeugen Ridvan Özdemir wurde große Hoffnung gesetzt“, sagt Veysel über das Gerichtsverfahren: „Im Prozessverlauf wurde jedoch deutlich, dass diese Person phantasiert und lügt. Es ging überhaupt nicht um uns. Das Ziel war, die PKK in Europa zu diskreditieren. Es sollte bewiesen werden, dass die PKK eine Terrororganisation ist. Es wurde versucht, eine Antithese herzustellen zu dem Gerichtsurteil in Belgien, demnach die PKK keine terroristische Organisation ist, sondern eine Partei in einem bewaffneten Konflikt. Bezweckt wurde damit, neue Argumente für die Einstufung der PKK auf der Terrorliste zu liefern.“

Staatsschützer mit Perücken als Zeugen

Der Kronzeuge habe sich im Verlauf der Verhandlungen immer mehr in Widersprüche verstrickt und die Bundesanwaltschaft und der Staatsschutz hätten sich sehr darum bemüht, ihm Recht zu geben, erzählt Veysel weiter: „Es wurden so viele Geheimdienstler als Zeugen zu dem Prozess gebracht, das lässt sich gar nicht beschreiben. Manche trugen Perücken und waren getarnt. Einige sagten, dass sie seit Jahren in der PKK-Abteilung arbeiten. Sie inszenierten etwas, aber eigentlich glaubten sie selbst nicht daran. Zum Beispiel antwortete einer von ihnen auf eine Frage, dass er seit vielen Jahren keine Gewalttätigkeit im Zusammenhang mit der PKK in Deutschland erlebt hat.“

Großer Kostenaufwand für den Kronzeugen

In den Kronzeugen wurde viel investiert, sagt Veysel: „Er wurde mit einem Hubschrauber auf das Gefängnisgelände geflogen und von dort aus mit einem schusssicheren Mercedes zum Gericht gefahren, in den Verhandlungssaal kam er in Begleitung von Bodyguards. Er trug eine Krawatte und einen Anzug. Es war wie im Film, wir hörten uns geduldig seine Lügen an. Das taten auch die Richter und der Bundesanwalt. Es war jedoch zu erwarten, dass er sich an irgendeinem Punkt verheddert.“

Eine Lüge nach der anderen

Veysel sagt, dass der Kronzeuge, als er 2015 nach Deutschland kam, zur Polizei gegangen ist und sich für eine Aufenthaltserlaubnis als Agent angeboten hat. „Angeblich kennt er mich. Ich bin 1982 geboren und er sagt, ich hätte mich 1992 der PKK angeschlossen. Ich war damals zehn Jahre alt und ging zur Grundschule. Außerdem behauptete er, er wäre 2002 mit mir zusammen in Qendîl gewesen und ich hätte jemanden hingerichtet. In dieser Zeit war ich jedoch in Bingöl im Gefängnis.“ Mit derartigen Lügen und diversen weiteren Falschaussagen sei versucht worden, den Prozess auf gewünschte Weise fortzusetzen.

„Ich wusste, dass ich verurteilt werde“

„Mit diesen unkontrollierten Aussagen wurde die Bundesanwaltschaft an den Rand des Wahnsinns gebracht. Stell dir vor, du hast eine Handgranate entsichert und suchst einen Ort, an den du sie werfen kannst. So war die Situation, und sie ist in ihren Händen explodiert. Ich könnte stundenlang von den erfundenen Lügengeschichten des Kronzeugen erzählen, aber das ist es nicht wert. Dieser Typ hat den Prozess an einen derartigen Punkt gebracht, dass der Staatsschutz ihn letztendlich aus dem Gerichtssaal geholt hat“, berichtet Veysel. Dass der Prozess trotz der widerlegten Anschuldigungen mit einer Verurteilung enden werde, habe er die ganze Zeit gewusst: „Es war eine politische Entscheidung, die wir erwartet haben.“

Besuch vom Staatsschutz

Veysel Satılmış hat die volle Haftstrafe abgesessen. Er sagt, dass er sogar acht Stunden zu spät entlassen wurde. Einen Tag vor seiner Entlassung bekam er Besuch vom Staatsschutz: „Sie fragten mich, was mein Ziel ist und was ich machen will. Ich sagte, dass sie mein Leben draußen nichts angeht, und lehnte ein Gespräch ab.“ Seine Bestrafung gehe jedoch immer noch weiter: „Einen Tag nach meiner Entlassung habe ich einen Brief bekommen. Ich muss täglich bei der Polizei eine Unterschrift leisten und darf Gelsenkirchen nicht verlassen. Mir wird auch der Kontakt zu kurdischen Organisationen verboten. YPG, YPJ, PYD, YXK, kurdische Vereine und Verbände, alles ist aufgezählt.“

Nichts zu bereuen

Gegen diese Auflagen will Veysel mit seinen Anwält:innen juristisch vorgehen. Er sagt, dass es anders gekommen wäre, wenn er Reue gezeigt hätte: „Wenn du zum Beispiel sagst: Ich bereue und bitte um Entschuldigung – dann sitzt du zwei Drittel der Strafe ab und kommst raus. Ich habe nicht gesagt, dass ich etwas bereue, deshalb habe ich die gesamte Strafe abgesessen. Es gibt nichts, was ich bereuen könnte.“ Gefragt nach seinen weiteren Plänen sagt er, dass es keine Alternative zu einem würdevollen Leben gibt. Und das muss erkämpft werden.

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