Auf psychiatrische Diagnosen können langfristige Zwangseinweisungen folgen – Anwälte und Wissenschaftler machen jetzt Druck dagegen nd 6.11.
Laut Strafgesetzbuchparagraf 63 können Menschen nach Bagatelldelikten in geschlossenen Anstalten verschwinden. Derzeit wird er überarbeitet. Eine neue Gruppe will die Bestimmung fallen sehen.
Von Josephine Schulz nd 6.11.15
Schuld ist die Voraussetzung von Strafe. Das wird Jurastudenten schon im ersten Semester eingetrichtert. Eine Ausnahme: »die Verrückten«. Denn wer irre ist, hat nicht die Fähigkeit, zwischen falsch und richtig zu unterscheiden. Für solche Menschen greifen Paragrafen, in denen von »Schwachsinn« und »seelischer Abartigkeit« die Rede ist. An die Stelle von Strafe tritt »Heilung« – durch Einweisung in die Psychiatrie, Zwangsbehandlung und Medikamente.
Gegen diese Sonderbehandlung im Recht hat sich nun eine Gruppe von Anwälten zusammengetan. »Kartell gegen § 63« nennt sich die bisher elfköpfige Gruppe. Mit dabei unter anderem Gerhard Strate, der Rechtsanwalt von Gustl Mollath. Der Paragraf, den das Kartell gern aus dem Strafgesetzbuch gelöscht sähe, regelt, dass Personen, die im Zustand der Schuldunfähigkeit Straftaten begangen haben und als gefährlich gelten, in die Psychiatrie eingewiesen werden. Einer der Initiatoren des Kartells ist der Politologe und Mitbegründer des Grundrechtekomitees Wolf-Dieter Narr. »Viele Menschen stolpern über den Begriff Kartell«, lacht Narr. Dabei habe die Gruppe mit einem »bürokratischen Monster« gar nichts zu tun. Die Bezeichnung solle lediglich Verbindlichkeit signalisieren.
In der Gründungserklärung des Kartells heißt es, man sei sich einig, dass § 63 Unrecht sei. Erstens, weil die Dauer der Freiheitsberaubung in der Psychiatrie willkürlich und regelmäßig länger als im Regelvollzug sei. Zweitens wegen erzwungener Körperverletzungen durch Zwangsbehandlungen.
Was diese Fachtermini in der Praxis bedeuten, wurde spätestens mit der Entlassung von Gustl Mollath öffentlich bekannt. »Einer flog über das Kuckucksnest war nichts gegen das, was ich gesehen habe«, berichtete Mollath im vergangenen Winter auf einer Informationsveranstaltung der Linkspartei. Acht Jahre hatte er im bayrischen Maßregelvollzug verbracht, wegen angeblicher paranoider Wahnvorstellungen, die ihm mehrere Gutachter bescheinigt hatten – ohne je ein persönliches Gespräch mit Mollath geführt zu haben.
Wer einmal im Irrenhaus sitzt, so scheint es, kommt dort nur schwer wieder heraus. Denn anders als eine Strafe, die man absitzen kann, ist »Heilung« prinzipiell unbefristet. Fälle wie der von Ilona Haslbauer sind keine Ausnahmen. Die 59-Jährige verbrachte ebenfalls acht Jahre im bayrischen Maßregelvollzug. Ihr Vergehen: Sie hatte eine Nachbarin mit einem Einkaufswagen gerammt. In der geschlossenen Psychiatrie wehrte sie sich gegen die Zwangsbehandlungen und musste feststellen: Wer nicht kooperiert, sitzt in der Falle.
Mirko Ološtiak vom Bundesverband Psychiatrieerfahrener erzählt: »Für Bagatelldelikte wie Sachbeschädigung oder Ladendiebstahl können Menschen bis zu 20 Jahre in der Forensik verbringen«, so Ološtiak. »Da wird das Recht völlig außer Kraft gesetzt.«
Psychisch Kranke prophylaktisch wegzusperren und gegen ihren Willen zu behandeln, widerspreche der UN-Behindertenkonvention und sei Folter, heißt es in der Gründungserklärung des Kartells. »Staatlicher Zwang zu erduldender Körperverletzung per Gesetz steht vor der Todesstrafe als schärfste Sanktion des Strafrechts«, so die Verfasser.
Wenn es um die vermeintlich Wahnsinnigen geht, verschieben sich im Recht die Verantwortlichkeiten. Formal bleibt die Entscheidung beim Richter, die Einschätzung aber treffen sogenannte forensische Psychiater.
» Die Qualität der Gutachter ist sehr unterschiedlich«, erzählt der Berliner Rechtsanwalt und Kartellmitglied Alexander Paetow. Ohnehin ließe sich nicht empirisch berechnen, wie gefährlich jemand für die Allgemeinheit sei. Der Anwalt hat bei seinen Mandanten viel Willkür erlebt. Einer sei aufgrund eines fehlerhaften Gutachtens im Maßregelvollzug gelandet. Rausgelassen wird er deshalb jedoch nicht. »Das Einzige, worauf man sich verlassen kann, ist, dass mit jedem neuen Psychiater eine andere Diagnose kommt«, so Paetow.
Ološtiak geht noch weiter: »Ich spreche der Psychiatrie die Wissenschaftlichkeit ab. Die Krankheitsbilder sind bestenfalls Modelle, um Dinge zu benennen, über die man kaum etwas weiß.«
Der Psychologe Ulrich Lewe hat lange Jahre in der Forensik gearbeitet. Nun behandelt er reguläre Straftäter, die aus der Haft entlassen werden. Er bezeichnet die Zusammenarbeit von Gerichten und Psychiatrien als »Hospitalisierungsmaschinerie«.
Die Zahlen geben ihm Recht, denn seit Jahren werden die geschlossenen Anstalten stetig voller. 1995 saßen laut Statistischem Bundesamt bundesweit rund 4700 Menschen auf richterliche Anordnung in der Psychiatrie. 2013 waren es knapp 11 000. Die Anzahl der Insassen unterscheidet sich zwischen den Bundesländern erheblich. In Nordrhein-Westfalen waren es 2013 rund 3000 Menschen, in Rheinland-Pfalz knapp unter 600. Laut Psychologe Lewe sei außerdem auffällig, dass die Menschen heute wesentlich länger im Maßregelvollzug festgehalten würden als noch vor zehn Jahren. »Das liegt wohl auch daran, dass die Forensik ein Boomgeschäft ist. Die Politik pumpt da Hunderte Millionen Euro rein.«
Hunderte Millionen für geschlossene Anstalten, in denen offenbar Dinge passieren, die sich niemand vorstellen kann. Ilona Haslbauer erzählte nach ihrer Entlassung davon, wie sie und andere Insassen über Tage an Händen und Füßen gefesselt in Isolationszellen verbracht hätten.
Der Paragraf 63 wird derzeit reformiert. Laut Gesetzesentwurf soll bei der Entscheidung über eine Einweisung zukünftig eine »stärkere Fokussierung auf gravierende Fälle« vorgenommen werden. Bei weniger schwerwiegenden Gefahren soll die Dauer im Maßregelvollzug »verhältnismäßig« sein. Wer ein gravierender Fall ist, oder worin eine schwerwiegende Gefahr besteht, obliegt jedoch weiterhin den Forensikern. Der Verein »Deutsche Gesellschaft für soziale Psychiatrie« kritisiert zudem, dass auch die Intensität des Freiheitsentzuges verhältnismäßig sein müsse. Im Maßregelvollzug werde die Chance verpasst, von stationärer zunehmend auf ambulante Behandlung umzustellen, wie dies in regulären Psychiatrien geschehe.
Das Kartell gegen § 63 will sich mit Reförmchen der Zwangseinweisung nicht zufriedengeben. Mit Publikationen wollen die Mitglieder auf die diskriminierende Praxis hinweisen. »Wir wollen die Politiker dazu bringen uns zuzuhören«, so Wolf-Dieter Narr. »Aber natürlich ohne Zwang.«