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Der britische Kommunist Stephan Kaczynski ist seit über vier Monaten in der Türkei inhaftiert

Von Peter Schaber, junge Welt 15.8

Am 31. März 2015 stürmte ein Kommando der verbotenen Revolutionären Volksbefreiungsfront (DHKP-C) in Istanbul ein Gericht und nahm einen Staatsanwalt als Geisel. Beide Angreifer und der Staatsanwalt starben. Unmittelbar danach führte die Polizei Razzien in jenen Stadtteilen der Metropole am Bosporus durch, die als Hochburgen der DHKP-C gelten, und verhafteten willkürlich zahlreiche Menschen.

Unter den Festgenommenen befand sich auch der britische Staatsbürger Stephan »Steve« Kaczynski. Der im schottischen Edinburgh geborene Journalist, der unter anderem für die BBC arbeitete, ist einer der wenigen aus dieser Verhaftungswelle, die vier Monate später immer noch im Gefängnis sitzen. Angeblich soll er Mitglied der DHKP-C sein, was ihm aber konkret vorgeworfen wird, wissen weder er noch seine Anwälte. Die Akte ist geheim und wird seinen Verteidigern bislang nicht ausgehändigt.

Schon die Verhaftung von Kaczynski war rechtlich fragwürdig. Er hielt sich zur falschen Zeit an einem Ort auf, der immer wieder Schauplatz von Polizeiübergriffen wird, dem Idil-Kulturzentrum im Istanbuler Stadtteil Okmeydani.

Dort probt die populäre linke Band Grup Yorum. Cihan, einer der Musiker, erinnert sich an den Tag der Razzia: »Wir waren zu fünft. Wir standen kurz vor einem wichtigen Konzert und haben uns vorbereitet. Steve ist zufällig im Kulturzentrum vorbeigekommen, um dort zu schlafen.«

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Die Mitglieder von Grup Yorum kennen Kaczynski seit langem. Der sprachbegabte Internationalist und Kommunist arbeitet häufig als Simultanübersetzer bei Konferenzen der türkischen Linken.

»Um vier Uhr morgens kam die Polizei und belagerte die gesamte Nachbarschaft mit schwerbewaffneten Sondereinheiten. Ein Hubschrauber kreiste über uns. Zwei Stunden lang versuchten sie, die Türen aufzubrechen, schafften es aber nicht.« Als die Polizei dann in das Kulturzentrum eingedrungen war, kam es zu Misshandlungen: »Sie schlugen uns, traten uns, beschimpften uns. Einer der Polizisten schlug auf uns ein, bis seine Hand blutete«, erzählt Cihan. Er sei schon oft verhaftet worden, so schlimm wie dieses Mal aber seien die Übergriffe selten gewesen.

Nach der Razzia wurden die Grup-Yorum-Mitglieder und Kaczynski zuerst einem Staatsanwalt und nach einigen Tagen einem Richter vorgeführt. Alle Verhafteten kamen frei – bis auf Kaczynski.

In der Untersuchungshaft beschimpften die Polizisten den britischen Journalisten und nannten ihn einen »deutschen Agenten«. »Wir bemerkten, dass sie mit Steve härter umgehen würden. Die Polizisten machten sich über ihn lustig, nannten ihn einen Agenten. Der Staatsanwalt hat diese Frage nie gestellt. Aber überall in den Medien kam dann dies zur Sprache, offensichtlich lanciert von der Polizei«, berichtet Cihan.

Rechte Zeitungen ergingen sich in Verschwörungstheorien. Er sei nicht nur ein Terrorist, sondern auch wahlweise britischer oder deutscher Spion, er habe sich sogar als Iman ausgegeben. Um die gängigen antisemitischen Stereotype zu bedienen, wurde hervorgehoben, dass er Jude ist.

Diese Kampagne lässt sich politisch unschwer einordnen. Seit Beginn der Gezi-Proteste im Jahr 2013 versucht der frühere Premier und heutige Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, jeden Protest gegen seine Neoliberalismus und Islamisierung vorantreibende AK-Partei als Resultat »ausländischer Verschwörungen« zu diskreditieren. Kaczynski befindet sich in Haft, weil die türkische Regierung meint, so der Öffentlichkeit einen Beleg für diese absurde Theorie präsentieren zu können.