grup y mustafa

„Ibrahim soll leben“

Den 313. Tag in Folge verweigert Ibrahim Gökçek von der Musikgruppe Grup Yorum aus Protest gegen die Kriminalisierung seiner Band die Nahrungsaufnahme. Sein Vater Ahmet fordert einen öffentlichen Aufschrei: „Denn die Zeit drängt.“

Den 313. Tag in Folge verweigert Ibrahim Gökçek die Nahrungsaufnahme. Die ersten 199 Tage war es „nur“ ein Hungerstreik, seit fast vier Monaten befindet er sich im Todesfasten. Damit protestiert der 39 Jahre alte Bassist der Musikgruppe Grup Yorum gegen die Kriminalisierung seiner Band. Denn Konzertverbote, Razzien und Übergriffe des Erdoğan-Regimes sind für die seit 35 Jahren bestehende Gruppe in der Türkei an der Tagesordnung.

Mittlerweile ist Gökçe sehr geschwächt, sein Zustand ist lebensbedrohlich. Wir haben in Istanbul mit seinem Vater Ahmet gesprochen. Er fordert den längst überfälligen Aufschrei der Gesellschaft. Nur die Bevölkerung könne die Regierung jetzt noch unter Druck setzen, die Forderungen seines Sohnes zu akzeptieren, glaubt er. Schließlich sei es der Staat, der die Grundlage dieser Ungerechtigkeiten bilde.

Ibrahim Gökçek will mit seinem Todesfasten das Auftrittsverbot durchbrechen, mit dem Grup Yorum seit Jahren belegt ist. Außerdem fordert er ein Ende der Polizeirazzien gegen Idil, das Kulturzentrum der Gruppe, die Freilassung aller inhaftierten Bandmitglieder und die Einstellung aller Gerichtsverfahren. Auch Gökçeks Bandkollegin Helin Bölek befand sich vor einiger Zeit noch im Todesfasten. Anfang April verstarb sie nach acht Monaten des Protests im „Widerstandshaus“ im linken Kiez Küçük Armutlu, wo Ibrahim seine Aktion ebenfalls durchführt. Im Januar hatte Bölek bei einer Pressekonferenz noch gesagt: „In den letzten zwei Jahren sind fast alle Mitglieder der Gruppe ohne Beweise und aufgrund anonymer Denunziationen verhaftet und mit Strafanadrohungen von bis zu zehn Jahren vor Gericht gestellt worden. Als Beweis wird außer anonymen Aussagen nur ein Album von uns angeführt – ein Album, das ganz legal und unter Aufsicht des Kulturministeriums erschienen ist und in allen Musikläden verkauft wurde, das keinen Straftatbestand erfüllt.“

Nach Angaben von Ahmet Gökçek sei es seinem Sohn nicht mehr möglich, sich selbst zu versorgen. Die Auswirkungen des anhaltenden Hungers seien schwerwiegend. „Er ist bei Bewusstsein, tagsüber können wir uns sogar unterhalten. Er drückt auch immer wieder aus, dass er seine Hoffnung nicht verloren hat. Er glaubt, dass mehr Einsatz der Öffentlichkeit zur Erfüllung seiner legitimen und gerechtfertigten Forderungen führen könnten. Aber die Schwellungen am Körper bereiten ihm massive Probleme.“

Diese Kinder, so wie es Gökçek ausdrückt, wollten nicht sterben. „Sie hungern, um zu leben. Sie wollen singen und wieder auf die Bühne. Es ist kein normaler Zustand, wenn Künstler keine Konzerte geben dürfen und Kulturzentren mit Repression überzogen werden. Für diese Menschen bedeutet ihre Kunst genauso viel wie die Luft zum Atmen. Sie wollen einfach nur, dass die Verbote aufgehoben werden. Und sie wollen Gerechtigkeit.“

Ahmet Gökçek ist besorgt, denn die Zeit drängt, sagt er. „Vier oder fünf Jahre lang haben diese Kinder darauf gewartet, dass die Forderungen der Gruppe erfüllt werden. Als letzten Ausweg sahen sie schließlich den Hungerstreik. Denn eine andere Form des Protests blieb ihnen nicht. Fast alle Bandmitglieder wurden verhaftet, andere entkamen dem Gefängnis nur durch Flucht ins Ausland.“ Das Volk müsse endlich Druck auf die Regierung ausüben, damit Grup Yorum Gerechtigkeit widerfahre. „Denn eins darf die Öffentlichkeit nicht vergessen: Gerechtigkeit wird eines Tages jeder von uns brauchen. Wenn wir sie heute nicht erkämpfen, wird sie uns morgen auch nicht zu Teil werden. “

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