sonja und christian

[RZ-Verfahren] Befangenheitsantrag der Verteidigung

Am ersten Prozesstag  – noch bevor überhaupt die Anklage verlesen werden konnte – lehnte Rechtsanwalt Wolfgang Heiermann für seinen Mandaten Christian Gauger die Richter_innen des Gerichts wegen Besorgnis der Befangenheit ab. In der Begründung wird die ganze Dramatik der damaligen Situation des in diesem Verfahren als Zeuge vorgeladenen Hermann Feiling deutlich:

Nach einem Unfall mit einem selbstgebauten Sprengsatz ums Überleben kämpfend, kaum aus der Reanimation erwacht werden Hermann Feiling von Polizisten mittels Täuschung, Drohung, die Desorientierung ausnutzend Informationen entlockt, die später als “Vernehmungen” in Strafverfahren eingeführt werden.

Wir veröffentlichen hier diesen Antrag, weil er verdeutlich, mit welchen Methoden staatlicherseits gearbeitet wird.

RAe Hartmann, Heiermann
50823 Köln

An das
Landgericht Frankfurt

Köln, 21.9.2012

In der Strafsache
./. Suder u.a.
5/22 Ks – 6150 Js 25777/94 (13/11)

lehnt Herr Gauger

die Vorsitzende Richterin am Landgericht Stock, die Richterin am Landgericht Möhrle und den Richter Dr. Helwig wegen der Besorgnis der Befangenheit ab.

Begründung:

Der Befangenheitsantrag stützt sich darauf, dass die abgelehnten Richter es unterlassen haben, die Entstehung der Vernehmungen von Hermann Feiling im Jahre 1978, seine Vernehmungsfähigkeit und Verhandlungsfähigkeit vor Zulassung der Anklage nach den Regeln des Prozessrechtes zu überprüfen. Sie nehmen damit die Gefahr einer gravierenden körperlichen Beeinträchtigung von Herrn Feiling bewusst in Kauf. Diese Unterlassung hat auch Auswirkung auf die Verfahrensposition von Herrn Gauger, der – selbst gesundheitlich schwer angegriffen – sich diesem Verfahren als Angeklagter aussetzen muss, obwohl eine rechtzeitige Klärung der Verwertbarkeit der Vernehmungen von Herrn Feiling dies hätte verhindern können. 

Für die Anklage sind die Angaben von Herrn Feiling, die er nach einem schweren Unfall am 23.6.1978 gemacht haben soll, zentral. Herrn Feiling war damals ein Sprengsatz auf dem Schoß explodiert. Mit diesem Sprengsatz sollte bei dem Argentinischen Generalkonsulat gegen die Austragung der Fußballweltmeisterschaft in dem damaligen Folterstaat Argentinien protestiert werden. Nach der Einlieferung in ein Heidelberger Krankenhaus mussten ihm beide Beine amputiert und beide Augäpfel entfernt werden. Er erlitt schwere Verbrennungen. Noch auf der Beatmungsstation des Krankenhauses begannen die Verhöre von Polizei und Staatsanwaltschaft, einen Tag nach der Explosion. Sie wurden fortgesetzt während des gesamten stationären Aufenthaltes im Krankenhaus und anschließend in den Polizeikasernen Münster und Oldenburg bis Ende Oktober 1978.

Während dieser gesamten Zeit wurden Besuche von Freunden und für ihn beauftragte Rechtsanwälten durch polizeiliche Anordnung und Gewalt verhindert. Lediglich seine Eltern und ein von ihnen gestellter Rechtsanwalt hatten neben Staatsanwälten, Richtern, Polizeibeamten und dem Klinikpersonal Zugang zu ihm. Diese Abschottungsmaßnahmen wurden mit dem persönlichen Schutz von Herrn Feiling begründet, dessen Leben nach Behauptungen der Polizei gefährdet sei. 

Versuche der Vertrauensanwälte sich über den damals zuständigen Ermittlungsrichter beim BGH Zugang zu Herrn Feiling zu verschaffen, scheiterten. Zur Begründung wurde angeführt, dass Herr Feiling sich nicht in Haft befinden würde und er damit nicht zuständig sei. Rechtlich befand sich Herr Feiling tatsächlich in Freiheit, faktisch in der Gewalt der Polizei. Als auf Antrag von Rechtsanwalt Baier beim Verwaltungsgericht – ihm Zugang zu seinem Mandanten zu gewähren – das Gericht zum Verhandlungstermin das persönliche Erscheinen von Herrn Feiling angeordnet hatte, wurde er aus der Polizeikaserne entlassen, nicht ohne ihn vorher noch mehrere Stunden vernommen zu haben. Insgesamt sind unter der Aufsicht der Polizei 1.300 Seiten angeblicher Aussagen gefertigt worden, die auch Herrn Gauger belasten sollen. Herr Feiling hat hierzu im September 1980 gesagt: 

„Diese angeblichen Vernehmungsprotokolle sind für mich das Ergebnis einer Behandlung, die den Namen Folter verdient. Ich halte es für aberwitzig, Angaben daraus zu verwenden.“ 

Die abgelehnten Richter haben mit der Zulassung der Anklage deutlich gemacht, dass sie die unter diesen Umständen erlangten Angaben von Herr Feiling für verwertbar halten.

Diese Entscheidung haben die abgelehnten Richter getroffen ohne aktuelle Überprüfung, ob aus heutiger Sicht, Herr Feiling in der Zeit seiner Polizeihaft 

    n

  1. überhaupt Vernehmungs- bzw. Verhandlungsfähig gewesen ist,
  2. ob er in der Lage gewesen ist, eine freie Entscheidung darüber zu treffen, auszusagen oder nicht,
  3. ob die Umstände und die Organisation der Polizeihaft unter der Herr Feiling Aussagen gemacht haben soll, nicht als unmenschliche Behandlung angesehen werden muss und damit einem Verwertungsverbot gem. § 136a StPO unterliegen. 

Hinzu kommt, dass sie weiterhin nicht geprüft haben, ob die im Jahre 1980 festgestellt Verhandlungsunfähigkeit von Herr Feiling andauert. Sie haben vielmehr Herr Feiling als Zeugen geladen und damit die Gefahr einer Retraumatisierung herbeigeführt. 

Zu den Punkten im Einzelnen: 

a) Die Vernehmungs- und Verhandlungsfähigkeit aufgrund der schweren Verletzungen wurde 1978 und 1981 durch mehrere Sachverständige überprüft (Sachakte des Verfahrens OLG Frankfurt OJs 42/78 Bd.IV, Bl. 328ff und Bd. I Bl. 30).

Die Sachverständigen kommen in ihren Gutachten, die über zwei Jahre nach dem Unfall erstellt werden, wegen der medizinischen Versorgung, der Amputation der Beine und der vollständigen Entfernung der Augäpfel zu einer Vernehmungs- und Verhandlungsunfähigkeit in der Zeit vom 24.6. bis 7.7.1978. Dabei spielt eine entscheidende Rolle, dass Herr Feiling Anfälle gehabt hat, die erst später als epileptische Anfälle diagnostiziert wurden. Dadurch wurde eine Hirnschädigung festgestellt, die vorher verneint worden war. 

b) Der Sachverständige Prof. Harlfinger, der Herrn Feiling sechs Monate nach dem Unfall untersucht hat, stellt fest, dass die Aussagefreiheit, also ob Herr Feiling in der Lage war zu entscheiden, ob er eine Aussage überhaupt machen will, in der gesamten Zeit seiner „Verwahrung“ eingeschränkt gewesen ist (OLG Frankfurt Sachakten Bd.I, Bl. 49).

Sachverständige weisen darauf hin, dass vorherrschendes Motiv für die „Aussagebereitschaft“ Konfliktvermeidung und die Anpassung an die „sozialen Umstände“ – wie die feine Umschreibung der polizeilichen Isolationshaft genannt wird -gewesen ist. 

Mit Beschluss des OLG Frankfurt vom 27.11.1980 (OLG Frankfurt Sachakten Bd.IV, Bl. 288f) wird festgestellt, dass Herr Feiling verhandlungsunfähig ist.

Die Verteidigung hatte schon in einer Haftbeschwerde vom 6.3.2009 ausführlich darauf hingewiesen, dass eine erneute sachverständige Beurteilung der Vernehmungsfähigkeit von Herrn Feiling aus medizinischer Sicht geboten ist. Die 29. Kammer des Landgericht Frankfurt hat unter Verweis auf die Ausführungen im Urteil des OLG Frankfurt 1982 am 7.5.2009 die Beschwerde zurückgewiesen und den dringenden Tatverdacht bejaht. In der Neufassung des Haftbefehls durch die abgelehnten Richter vom 12.7.2012 wird u.a. mit diesen Entscheidungen weiterhin der dringende Tatverdacht bejaht und in einem weiteren Beschluss die Anklage zugelassen. 

Die abgelehnten Richter haben es damit pflichtwidrig unterlassen, zu prüfen, ob neue medizinische Erkenntnisse vorliegen, die eine weitere/andere Beurteilung der damaligen Vernehmungsfähigkeit nach dem Explosionsunfall nötig macht. Denn bei Durchsicht der Akten hätten die abgelehnten Richter feststellen müssen, dass die erst weit nach seiner Entlassung aus der Polizeihaft erkannten epileptische Anfälle, die Herr Feiling erlitten hat, zu einer völlig anderen Beurteilung seiner Vernehmungs- bzw. Verhandlungsfähigkeit auch für den Zeitraum der Isolation geführt hat. Letztlich begründet das OLG Frankfurt in seinem Beschluss vom 27.11.1980 gerade mit diesen neuen Erkenntnissen die Verhandlungsunfähigkeit von Herr Feiling mehr als zwei Jahre nach dem Ereignis. 

Es drängte sich deshalb nach Ablauf von über 30 Jahren geradezu auf, zur Vorbereitung der Entscheidung über die Zulassung der Anklage, die Situation von Herrn Feiling in der damaligen Verhörsituation aktuell abzuklären und die neueren Erkenntnisse der medizinischen Forschung in diese Abklärung, einzubeziehen. So sind heutige Erkenntnisquellen – z.B. der Traumaforschung – die die psychischen Auswirkungen u.a. vom Ausschluss von Vertrauenspersonen bei der Bewältigung von Traumata gründlich erforscht haben, nicht genutzt worden.

Wenn Herr Feiling – aufgrund der später als Epilepsie erkannten Anfälle – die ersten 14 Tage nach dem Unfall verhandlungsunfähig war, dann verhandlungsfähig gewesen sein soll und dann ab November 1980 wieder verhandlungsunfähig war, denn muss sich für ein unvoreingenommenes Gericht die Frage aufdrängen, wie war es denn aus heutiger Sicht in der Zeit von Mitte Juli 1978 bis November 1980 mit der Verhandlungsfähigkeit von Herrn Feiling bestellt? War die Feststellung von Prof. Harlfinger zur eingeschränkten Aussagefähigkeit für die gesamten Vernehmungen in der Polizeihaft nicht doch zutreffend? 

Unvoreingenommene Richter hätten diese Frage im Zwischenverfahren geklärt, um eine evtl. unnötige Belastung des Zeugen Herrn Feiling in einer Hauptverhandlung zu vermeiden und auch den schwerkranken Angeklagten Gauger nicht einem unnötigen Prozess auszusetzen. 

Die abgelehnten Richter berufen sich dagegen auf das Urteil des OLG Frankfurt aus dem Jahre 1982, das, gestützt auf die damaligen Sachverständigen, Vernehmungsunfähigkeit nur für 14 Tage annimmt und die Abschottung von Vertrauenspersonen, die polizeiliche Isolation des schwertraumatisierten Herrn Feiling nicht beanstandet.

Nun ist es nicht unzulässig, Entscheidungen eines höheren Gerichts zu berücksichtigen. Zweifel an der Unabhängigkeit und Unvoreingenommenheit von Richtern treten jedoch auf, wenn sie sich heute allein auf eine Einzelentscheidung in derselben Sache berufen, die 30 Jahre zurückliegt und naturgemäß die weitere Entwicklung in Rechtssprechung und Wissenschaft nicht berücksichtigt hat und berücksichtigen konnte. 

Die abgelehnten Richter haben im Zwischenverfahren, das immerhin über acht Monate gedauert hat, auch die aktuelle Vernehmungsfähigkeit/Verhandlungsfähigkeit von Herrn F. nicht prüfen lassen, sondern ihn einfach als Zeugen geladen, als ob nichts gewesen ist. 

Die Verteidigung von Herrn Gauger hatte schon in der Haftbeschwerde vom 6.3.2009 beantragt, unter besonderer Berücksichtigung der Entwicklung der Traumaforschung, einen Sachverständigen mit der Begutachtung der damaligen Verhörssituation zu beauftragen. 

In dem Antrag heißt es dazu: 

„Das Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins lässt den Wunsch nach Geborgenheit übermächtig werden. Personen, die dem Traumatisierten nicht feindlich gegenüber treten, schenkt er Vertrauen, jedes Gespräch ist wie ein Rettungsring, an den er sich klammert. Bei den Versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, stimmt er die Worte oft darauf ab, was der Andere hören will. Die Bruchstücke an Informationen, die aufgenommen werden, die Schlüsse, die gezogen werden, ob richtig oder falsch, gelten nur für einen Augenblick. Das Gehirn ist nicht in der Lage, Zusammenhänge zu erfassen. Die Gefühle sind derart formbar geworden, dass sie sich lenken lassen. Kaum ist der Traumatisierte allein, stürzen irreal Menschen und Wahnbilder auf ihn ein. 

Die plötzliche Erblindung, die Amputationen, der Unfallschock haben bei Herrn Feiling diese Gefühle und Reaktionen massiv ausgelöst. Er hat sich in völliger Abhängigkeit zu den Menschen seiner Umgebung gefühlt und versucht, die Erwartungen dieser Menschen zu erfüllen. Die Abwesenheit von Personen seines Vertrauens – die sporadische Anwesenheit seiner Eltern änderte daran nichts – führte dazu, dass er seine Hinwendung auf die Personen richtete, die täglich bei ihm waren. Eine Hauptbezugsperson war der Polizeibeamte Berberich, der den gesamten Zeitraum von Ende Juni bis Ende Oktober 1978 nahezu täglich anwesend war und auch die Vernehmungen durchführte. Die Polizei war Herr über seine gesamte Lebenssituation, sie führte medizinische Pflegebehandlungen durch, „unterstützte“ ihn in alltäglich Dingen, spielte mit ihm Schach und führte Vernehmungen durch, deren Ablauf aus den Akten allenfalls bruchstückhaft zu entnehmen ist. Hilflosigkeit, Orientierungslosigkeit und Abhängigkeit wurden von den Vernehmungspersonen ausgenutzt, um an Aussagen von Herrn Feiling zu kommen.“ (Sachakten Gauger u.a. Bd. 35, Bl.374) 

Die Pflicht eines Gerichts, die Verhandlungs- und Vernehmungsfähigkeit – von damals und heute – im Licht der aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnismöglichkeiten zu prüfen, erscheint selbstverständlich, gilt aber offensichtlich für die abgelehnten Richter nicht, wenn es um die Verhöre von Herrn Feiling geht. Unabhängige Richter, die unvoreingenommen einem Sachverhalt gegenüber stehen, haben die neuesten Erkenntnisse der Wissenschaft nicht zu fürchten, sondern begrüßen weitere Aufklärungsmöglichkeiten. Die abgelehnten Richter halten sich an 30 Jahre alten Gutachten fest, weil, so muss Herr Gauger befürchten, ihnen das Ergebnis passt. 

c) Die Besorgnis der Befangenheit stützt sich aber nicht allein auf diese Ignoranz neuerer Forschungen bei der Beurteilung von Vernehmungsfähigkeit/Verhandlungsfähigkeit und Aussagefreiheit. Die Entscheidung der abgelehnten Richter, die Anklage gegen Herrn Gauger zuzulassen, weist noch auf eine andere innere Haltung der abgelehnten Richter hin, die über eine schlichte Befangenheit hinausgeht. Denn mit den Beschlüssen zur Zulassung der Anklage und der Haft machen sie deutlich, dass sie die Umstände, unter denen Herr Feiling damals in Isolation und Abschottung verhört worden ist, für rechtsstaatlich in Ordnung, mit der Verfassung und der Europäischen Menschenrechtskonvention im Einklang sehen. Dies sollte im Gedächtnis behalten werden, wenn ich nun Auszüge aus einem Antrag des damaligen Verteidigers von Herrn Feiling – Rechtsanwalt Baier – verlese, den er beim Oberlandesgericht am 25.11.1980 gestellt hat. 

Ich zitiere nun aus dem Antrag des Kollegen Baier:

(Die Seitenzahlen beziehen sich auf den Antrag der als Anlage 1) zum Protokoll der Hauptverhandlung genommen wurde OLG Frankfurt OJs 42/78 Protokollband I, Bl. 2) 

Der Sprengsatz explodiert auf dem Schoß von Feiling am 23.Juni 1978 gegen 10.00 Uhr. Er wird sofort in die Universitätsklinik Heidelberg gefahren. Dort werden ihm beide Beine knapp unterhalb des Beckens und die beiden Augen entfernt. Die Operation dürfte gegen 13.00 Uhr beendet sein; ihr genaues Ende ist nicht bekannt, die Krankenblätter beginnen jedoch mit der Eintragung von 13.00 Uhr. Feiling liegt auf der Intensivstation. Wann die Wirkungen des wahrscheinlich morphinhaltigen Narkosemittels völlig abgeklungen sind, weiß derzeit niemand; er erhält im Laufe des 23. Juni mehrfach starke Schmerzmittel. Am Tag darauf kann er morgens noch nicht sprechen, da er immer noch intubiert ist. Nachdem er vorher schon wusste, dass beide Augen entfernt waren, erfährt er im Laufe des Vormittags des 24.Juni dass er auch beide Beine verloren hat. Zu dieser Zeit leidet Feiling zusätzlich zu den bereits beschriebenen Verletzungen noch an Platzwunden und Verbrennungen Zweiten Grades im Gesicht und an der Kiefernhöhlenverletzung, einem Einbruch des Kiefernhöhlendaches (Blow-Out-Fraktur). Durch ein Gutachten eines Neurologen konnte im September dieses Jahres (das ist das Jahr 1980 d. Unterz.) festgestellt werden, dass er auch eine Hirnverletzung erlitten haben muß.

Unter dem Schock der Bewusstwerdung seiner körperlichen Versehrungen liegt der verstümmelte Feiling nun unter Tüchern an den Schläuchen, als unmittelbar nach der Extubation, also nach der Beendigung der Beatmung, die Vernehmungen beginnen, obwohl Feiling noch immer in akuter Lebensgefahr schwebt. Um 13.30 Uhr nähert sich ihm ein Staatsanwalt, der ihn – wie er in der Akte vermerkt – ausdrücklich nicht belehrt, ihn aber dann umfangreich verhört. ( S. 6-7)

Es wird niemanden von uns gelingen, sich jemals auch nur annähernd in die damalige Situation von Feiling hineinzuversetzen. Andererseits ist es unabdingbar, einiges theoretisch Erfassbare, was über die Folgen der Operation, der Fortwirkung des Narkosemittels, der Wirkung der Schmerzmittel, der Persönlichkeitssituation in der Intensivbehandlung und die Einwirkung der jetzt erst diagnostizierten Hirnverletzung hinausgeht, darzustellen.

(Zur Blindheit)

Feiling war nicht nur blind, er war erblindet; er war aber nicht nur erblindet, sondern er war katastrophenartig erblindet. Diese Unterscheidung ist nicht haarspalterisch, sie ist ebenso notwendig, wie es lächerlich wäre, die Situation eines Erblindeten dadurch nachzuvollziehen, dass man für einige Zeit die Augen schließt.

Durch die Explosion des Sprengsatzes befand sich Feiling in der nahezu unvorstellbaren Lage, sich in einem von dem früheren völlig konträren Leben zu befinden. Anstatt der Welt aus Raum, Licht und Farbe ist es nun völlig bewegungslos in absolute Finsternis gestürzt, seine Existenz und die Existenz anderer erkennt er in Berührungen und Stimmen.

Die Wahrnehmungsapparate des Menschen sind offensichtlich derart aufeinander bezogen, dass der Wegfall des einen, katastrophenartige Veränderungen bei den anderen herbeiführt. Der plötzliche Sehverlust hat einen tief greifenden Wandel im Eigenerleben und im Umwelterleben des Erblindeten zur Folge. Andere Sinnesfunktionen, die von der optischen Wahrnehmung abhängig sind, verlieren somit ihre funktionelle Abhängigkeit, die Verschränkung von optischem Wahrnehmen und Selbstbewegung wird gelöst und die Beziehungen zwischen optischem Wahrnehmen und Vorstellung wird unterbrochen. (S.9 – 11)

Feiling hat die eben dargestellte „Reizschutzlosigkeit“ des Erblindeten zusätzlich noch durch seine besondere Situation der Bewachung durch Polizeibeamte gesteigert angstvoll empfunden. Polizeibeamte hätten ihm bedeutet, er sei bedroht, da es „hier einige gebe, die ihm gerne eine Spritze verpassen würden“. Er wäre somit in einer beständigen ängstlichen Erwartung beispielsweise vor medikamentösen Verabreichungen gewesen; jede medizinische notwendige Berührung und Verabreichung hätte in diesem Zusammenhang eine akute Bedrohung für ihn dargestellt. Feiling berichtete zusätzlich, er habe mitbekommen, wie seine Mutter von einem Polizeibeamten gefragt worden sei, ob sie zustimme, dass er in ein psychiatrisches Krankenhaus verlegt werde; das hätte ihn – so Feiling wörtlich –„ mit Horror erfüllt“. (S. 16 – 17)

Das bei Späterblindeten ohnehin zu beobachtende Selbstentfremdungserlebnis wurde verstärkt durch den Wegfall der Eigenbewegung. Alle körperlichen Funktionen wie kleiden, waschen, Schüssel reichen, die Notdurft verrichten, Ernährung zu sich nehmen, konnte er nicht selbst verrichten, sondern wurden an ihm vollzogen.

Schließlich kommt eine noch viel komplexere Dimension hinzu: Infolge seiner völligen und totalen Hilflosigkeit als Erblindeter und Amputierter war Feiling bewusst, dass er in totaler Abhängigkeit von der Hilfestellung anderer war. Medizinisches Pflegepersonal und Polizeibeamte waren für ihn nicht unterscheidbar. Andererseits steht auch fest, dass die Polizeibeamten ihn tatsächlich versorgt haben. Alles, was mit ihm geschah, erfolgte nur aufgrund der Zustimmung durch die Polizeibeamten. Er wurde gewaschen, gefüttert, auf die Schüssel gesetzt, gebettet, zur Vermeindung des Wundlegens gepudert, getragen etc.; er hatte keinerlei Möglichkeiten der eigenen Auswahl in seinen sozialen Kontakten und befand sich zu den ihn umgebenden Polizeibeamten im engsten Abhängigkeitsverhältnis. Er reproduzierte – allerdings mit dem Unterschied, dass er dies bewusst erlebte – die frühkindliche Situation der Abhängigkeit des Kindes von der Mutter.

Von Polizeibeamten war ihm ja die Mitteilung überbracht worden, dass sein Leben durch Dritte bedroht sei. Dies ließ ihn die Polizeibeamten, die ja seine ausschließlichen Bezugspersonen waren, als Beschützer erleben. Die Abhängigkeit von ihrer Hilfestellung musste in ihm eine Gefühl der Dankbarkeit erzeugen, ebenso wie das Bewusstsein, dass von Seiten der Polizeibeamten erwartet werde, er werde sich für den Schutz und Befriedigung seiner Bedürfnisse revanchieren. Die totale Abhängigkeit von diesen Beschützern, von denen er weiß, dass sie eine Gegenleistung erwarten, wird begleitet von einer inquisitorischen Vernehmungssituation. Dies lässt die Anstrengung fast unmenschlich erscheinen, einen von seinen Bewachern unabhängigen und autonomen Wunsch auch nur zu äußern. (S. 18 – 20)

Diese Situation der Hilflosigkeit, der Orientierungslosigkeit und der totalen Abhängigkeit haben die Ermittlungsbehörden in skrupelloser und barbarischer Weise genutzt.

Von allen Freunden abgeschirmt, haben sie sich seiner wie eines Leibeigenen bedient. Sie haben sich, als er in seinem Wahrnehmungsapparat völlig zerstört und durcheinander geworfen und in seinem Persönlichkeitserlebnis völlig zerschmettert (war), von ihm selbst und von seinem Wissen Besitz ergriffen, ihn wie ein Asservat behandelt und untersucht, ohne Rücksicht auf seine seelische Not in seinem Gehirn geblättert und sich daran bedient, wie in einem Selbstbedienungsladen.

Das ist kein Rückfall in finstere Inquisitionsmethoden des Mittelalters, das ist die Fortentwicklung modernster Verhörtaktiken in finstere Gegenwart. ( S. 21 -22)

In dem „menschlichen Wrack“ so das Heidelberger Tageblatt über Feiling am 26.Juni 1978 – sah „der Generalbundesanwalt erstmals eine Möglichkeit, in die Revolutionären Zellen seitens der Strafverfolgungsbehörden einzudringen“- so der Bericht der Rhein-Neckar-Zeitung vom 5.Juli 1978 über eine Pressekonferenz Rebmanns. (S.4)

Feiling war Gefangener seiner Verstümmelung, er war aber auch Gefangener der Polizei. Das Institut der Polizeihaft gibt es in der Bundesrepublik nicht: es wurde aber an ihm vollzogen. Dementsprechend war zwar ein Haftbefehl erlassen worden, jedoch nicht in Vollzug gesetzt. Anfragen beim Amtsgericht oder beim Bundesgerichtshof mit Anträgen auf Besuchserlaubnis wurden von diesen abgelehnt mit dem Einwand, da Feiling sich nicht in Untersuchungshaft befände, hätte der Haftrichter keine Kompetenz. Freunde von Feiling, die ihn besuchen wollten, stießen überall auf verschlossene Türen, Achselzucken, Auskunftsverweigerung, Weiterverweisung und schließlich Besuchsverbot.

……

Ohne dass dies auch nur irgendwie gerechtfertigt werden könnte, werden alle Besucher, außer den Familienangehörigen Feilings, zurückgewiesen. Ein Rechtsanwalt, der von der Verlobten von Feiling beauftragt wurde, sich um ihn zu kümmern, erhält weder Auskünfte über den Aufenthaltsort von Feiling noch über dessen Zustand; ein Besuch bei Feiling wird ihm verwehrt.

Um diesen völlig rechtswidrigen Zustand einigermaßen kaschieren zu können, passt es gut ins Konzept, dass am 1.Juli 1978 ein Ehepaar in Heidelberg festgenommen wurde, als es Feiling besuchen wollte. Im Polizeibericht heißt es, den Besuchern sei der Zutritt verwehrt worden, weil – weisungsgemäß – nur die engsten Verwandten Zutritt hätten. Das Ehepaar wird vorläufig festgenommen, da beide angeblich Personenbeschreibungen entsprächen, die ein Hinweisgeber auf noch unbekannte Mitglieder der Revolutionären Zellen abgegeben hätte. Unter der Überschrift „Befreiungsaktion geplant?“ erscheint dann am 7. Juli 1978 ein Artikel in der Rhein-Neckar-Zeitung, wonach mitgeteilt wird, dass das Ehepaar im Zusammenhang mit einem Besuch wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer „terroristischen Vereinigung“ verhaftet worden wäre. Wahlweise wird dieses Ehepaar ausgewiesen als Mannschaft zur „Befreiung“ von Feiling: ein Bundesanwalt sprach aber davon, man könnte den gegen sie erlassenen Haftbefehl auf Verdacht des Mordes an Hermann Feiling erweitern. Von einer gefundenen „Pistole“ war auch die Rede, an die sich heute jedoch niemand mehr erinnern will. Nach 3 Monaten Untersuchungshaft wurde das Ehepaar sang- und klanglos entlassen, jegliches Ermittlungsverfahren gegen sie wurde eingestellt. Von einer Befreiungsaktion oder der Liquidierung eines geständnisfreudigen RZ-Mitglieds war nie wieder die Rede. Nachdem das Gerücht über die angebliche Bedrohung Feilings nun mal in der Welt war, konnte sich die Polizei immer wieder auf eine Gefährdung Feilings berufen. ( S. 23 – 25)

Hiermit möchte ich die Zitate abschließen, der Antrag umfasst insgesamt 48 Seiten und ist ein erschütterndes Dokument bundesrepublikanischer Justizgeschichte.

In Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention heißt es:

„Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden“.

In Artikel 1 des Grundgesetzes heißt es:

„Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt“.

Die oben nur in Auszügen dargestellte Behandlung von Herrn Feiling im Jahre 1978 verhöhnt diese Verpflichtung staatlicher Organe. Die rechtswidrige Isolierung, die absolute Abschottung von Vertrauenspersonen, die inquisitorische Befragung, der Ausschluss seines Vertrauensanwalts während der vier Monate dauernden Vernehmung des schwerstverletzten Hermann Feiling widerspricht in eklatanter Weise diesen Verboten einer unmenschliche Behandlung. Es ist nicht etwa nur die „Ausnutzung“ der schweren Verletzung, um zum Vernehmungserfolg zu kommen, es ist die aktive Herstellung einer menschenverachtenden Barriere gegen einen Schwerverletzten, der dringend einer vertrauensvollen, liebevollen Unterstützung bedurfte.

Stattdessen machen sich die abgelehnten Richter heute noch die Gründe des Urteils des OLG Frankfurt aus dem Jahre 1982 zu Eigen, die diese Behandlung von Herrn Feiling absegnen. Wollen die abgelehnten Richter damit die Tradition einiger Gerichte aus den 1970er und 80er Jahren fortsetzen, die meinten, bei der Bekämpfung des so genannten Terrorismus seinen nahezu alle Mittel erlaubt, auch die der unmenschlichen Behandlung?

Möglicherweise haben die Richter aber verkannt, dass es sich nicht nur um ein medizinisches Problem handelt, ob eine Vernehmung zulässig und verwertbar ist und die Bedeutung der sozialen Umstände nicht beachtet, die von den Sachverständigen nicht beurteilt worden sind. So heißt es ausdrücklich in dem Gutachten von Prof. Mentzos vom 9.2.1981:

„Es ist gewiss nicht meine Aufgabe zu prüfen, inwiefern die sonstigen Bedingungen, unter denen die Vernehmungen durchgeführt wurden, einen für Herrn Feiling unzumutbaren psychischen Druck ausgeübt und somit seine Verhandlungsfähigkeit und speziell seine Willensfreiheit beeinträchtigt haben. Dies sind ja Fragen des Tatbestandes dessen evtl. psychologischen Auswirkungen im Bereich der Normalpsychologie angehören und somit von den Mitgliedern des Senats ohne spezielle psychologische Fachkenntnisse festgestellt und eingeschätzt werden können“. (OLG Frankfurt OJs 42/78 Bd.IV Gutachten Bl. 340)

Nicht nur Herrn Gauger – auf dessen Sicht eines „vernünftigen Angeklagten“ es hier bei der Frage der Besorgnis der Befangenheit ankommt – sondern breite Teile der Öffentlichkeit sehen in der polizeilichen Isolierung von Herrn Feiling einen Skandal, der in der bundesrepublikanischen Justizgeschichte seines Gleichen sucht.

Schon im Jahre 1980 war in der Zeitschrift „Der Spiegel“ unter der Überschrift „Voll unter Fittichen“ zu lesen, ich zitiere: 

Mit welchen Mitteln Kriminalbeamte und Staatsanwälte die Anklagebasis erzwungen haben, dass und warum der Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts überhaupt verhandelt, markiert einen Tiefpunkt bundesdeutscher Rechtspflege. „Es widerspricht der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen Objekt staatlichen Handelns zu machen und kurzerhand von Obrigkeitswegen über ihn zu verfügen“ – goldene Worte aus einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1970. Ein solcher Verstoß gegen das oberste Grundrecht wurde hier monatelang exekutiert. 23. Juni 1978: Die Operation, bei der Hermann Feiling Beine und Augen verlor, ist keine 24 Stunden her. Der Schwerverletzte ringt noch mit dem Tod. Er ist an zahlreiche Schläuche angeschlossen, die seine Körperfunktionen künstlich aufrechterhalten, vier Ampullen Dipidolor wurden gespritzt.

Im Pharmazeutischen Lexikon heißt es:

Dipidolor ist ein morphinhaltiges Schmerzmittel, das nur bei besonders starken Schmerzen verordnet wird… Bei einigen Patienten stellt sich eine Euphorie ein, d.h. ein unrealistisches Gefühl des Wohlbefindens, außerdem Gefühle der Geborgenheit. Es erleichtert gedankliche Assoziationen, eine „positive Grundeinstellung“, Gedankenflucht…

Das Mittel wirkte. Bedrängt von Ermittlungsbeamten, erklärt ein Arzt Hermann Feiling am Morgen nach der Operation für vernehmungsfähig. Oberstaatsanwalt Peter Wechsung, 36, macht sich ans Werk und bringt den Todkranken zum Reden. Den Namen Wechsung, so erinnert sich Feiling später, habe er mit einem Anwalt in Verbindung gebracht. Dass er während der ersten Tage im Krankenhaus mit ihm geredet habe, sei ihm nicht erinnerlich.

Staatsanwalt Wechsung und seine Hilfsbeamten kommen fast täglich ans Krankenbett. Paragraph 136a der Strafprozessordnung, wonach die Freiheit der Willensentschließung und der Willenbetätigung des Beschuldigten nicht beeinträchtigt werden darf, spielt keine Rolle. Wechsung unterlässt sogar die gesetzlich vorgeschriebene Belehrung über das Recht der Aussageverweigerung – „aus Zeitgründen“ – wie später in den Akten vermerkt.

Bald kommt Besuch von der Bundesanwaltschaft, auch ein Bundesrichter tritt auf den Plan…

Soweit das Zitat aus dem „Spiegel“ 1980, Nr. 48, vom 24.11.1980, S. 136 f.

Das OLG Frankfurt hat diese Verhörmethoden vor 30 Jahren legitimiert. Es ist mit dieser Entscheidung allein geblieben, denn bis heute hat sich eine solche polizeiliche Behandlung eines Schwerstkranken nicht wiederholt. Wiederholen sollen sich nach dem Willen der abgelehnten Richter aber die Rechtsfolgen. Sie wollen heute festschreiben, dass diese Behandlung eines Menschen mit der Menschenwürde vereinbar ist. Denn zur Legitimation des Haftbefehls und damit auch inzident für die Entscheidung über die Eröffnung des Hauptverfahrens beziehen sich die abgelehnten Richter ausdrücklich nur auf diese Einzelentscheidung des OLG Frankfurt.

Glaubhaftmachung

– Beziehung der Verfahrensakten

– Dienstliche Erklärung der abgelehnten Richter

– anliegende Anwaltliche Versicherung von Rechtsanwalt Baier hinsichtlich der tatsächlichen Angaben in dem zitierten Antrag

– anwaltliche Versicherung des Unterzeichners

Es wird gebeten, die dienstlichen Erklärungen und die Stellungnahme der Staatsanwaltschaft vor einer Entscheidung der Verteidigung zugänglich zu machen und die Richter namhaft zu machen, die über das Gesuch entscheiden.

Heiermann

Rechtsanwalt

Download PDF: Gauger_Befangenheit_II_21-9-12