Wenn Hunderte von Akten im Zusammenhang mit dem NSU vernichtet werden, wenn ›heißen Spuren‹ in keinem einzigen Fall nachgegangen wurde, wenn Behörden die Existenz von V-Leuten verschweigen, wenn bei allen neun Morden an Menschen mit türkischer und griechischer Abstammung ein rassistischer Hintergrund ausgeschlossen wurde, wenn all dies in allen Behörden und auf allen Ebenen geschieht, dann darf man hinter diesem ›menschlichen Versagen Einzelner‹ ein System vermuten – zumindest sollte man dies nicht ausschließen.
Wenn dies nahe liegt, dann muss man auch den schlimmsten Fall für möglich halten bzw. darf ihn nicht von vorneherein ausblenden.
Haben die namentlich bekannten Mitglieder des NSU, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, am 4. November 2011 in ihrem Campingwagen tatsächlich Selbstmord begangen? Gibt es gute, überprüfbare Gründe, an der bis heute aufrecht erhaltenen Selbstmordthese zu zweifeln? Ja.
Es gibt nicht wenige, die es falsch halten, dass man diesen Fragen nachgeht. Letztendlich wäre es doch egal, wie diese beiden Neonazis umgekommen sind.
Das mag cool erscheinen und emotional verständlich sein – politisch ist es jedenfalls falsch.
Wer diese Fragen den Anwälten der Neonazis überlässt, verstellt sich selbst die Möglichkeit, folgenden Fragen nachzugehen: Gibt den dritten Mann, den mehrere Zeugen an Tatort gesehen haben? Was machte der Neonazikader André Kapke in der Nähe des Tatortes? Wenn belegbar ist, dass die Verfolgungsbehörden die Spur zu den namentlich bekannten NSU-Mitgliedern nie verloren haben, dann stellt sich doch zwingend die Frage: Wo waren sie am 4. November 2011?
Die Selbstmordthese ist so evident wie die Behauptung, die NSU-Mitglieder seien spurlos verschwunden
»Hat der Neonazi Mundlos wirklich seinen Kumpel und dann sich selbst erschossen? Was, wenn alles ganz anders war?«
Dieses kurze Aufblitzen journalistischer Sorgfaltspflicht tauchte im Dezember 2011 im Feuilleton der Frankfurter Rundschau in einem Artikel über einen Krimiautoren auf – als letzter Satz. (Risse in der Fassade, FR vom 30.12.2011). Danach wurde es wieder dunkel.
Der Tod der beiden NSU-Mitglieder in Eisenach im November 2011 wird unisono als Selbstmord ›kommuniziert‹. Es ist die Version der Generalbundesanwaltschaft, es ist die Version des OLG in München. Die auflagestarken Medien haben sie übernommen, heute mehr denn je. Ein Verlautbarungsjournalismus, der nahtlos an die Zeit anknüpft, als sie alle Körner aufgepickt und ›unabhängig‹ aufbereitet hatten, die ihnen die Ermittlungsbehörden vor die Füße warfen. Für dieses Versagen entschuldigten sich diese Medien, damals …
Allein die Tatsache, dass es für diesen Tathergang am 4. November 2011 zwei gravierend voneinander abweichende Versionen gibt, müsste stutzig machen.
Die erste Version entstand kurz nach dem Überfall und wird von der Thüringer Allgemeine, die sich dabei auch auf Polizeiangaben stützte, so beschrieben: Die Bankräuber benutzten bei ihrem Banküberfall einen Caravan, dessen Spur Stunden später zu den NSU-Mitgliedern führte. Die Beamten näherten sich dem verdächtigen Caravan. Dann hörten sie »aus dem Innenraum zwei Knallgeräusche …« Kurz darauf brannte der Caravan lichterloh und dann war alles vorbei.
Die zweite Version wurde zwei Monate später nachgeschoben und stammt vom Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der SOKO in Thüringen, der ebenfalls mit seinen Polizeibeamten am selben Tatort war. Als seine Beamten auf den Caravan stießen, wurden sie mit MP-Salven empfangen: »Wir wussten, dass sie scharfe Waffen hatten. Sie haben sofort auf uns geschossen«, sagte Menzel. (Polizeidirektor Michael Menzel, Leiter der SOKO in Thüringen, Bild.de vom 26.11.2011). Dann soll die MP geklemmt haben, woraufhin die Schützen sich selbst umbrachten.
Beide Versionen werden von Polizeibeamten erzählt. Welche Polizisten sind echt, welche Version ist echt? Aufgrund des Umstandes, dass beide Versionen in entscheidenden Punkten signifikant voneinander abweichen, sind nuancierte Wahrnehmungsunterschiede auszuschließen.
Die letzte Version hat es bis in die Anklageschrift geschafft: »Unscharf bleiben auch die Vorgänge im Wohnmobil. So findet sich in der Anklage weiterhin die Behauptung, dass aus dem Fahrzeug heraus ein Schuss auf die Polizeibeamten abgegeben worden sei – die Spurenlage widerspricht dem aber.« (Andreas Förster, der Freitag vom 11.4.2013)
Inszenierter Selbstmord?
Abgesehen von den deutlich voneinander abweichenden Tathergängen, wird als Motiv der schwer bewaffneten Neonazis ihre »aussichtslose Lage« angeführt. Was war daran aussichtslos? Wenn irgendjemand über 13 Jahre hinweg im ›Untergrund‹ sicher war, dann war es der Nationalsozialistische Untergrund! Was war an dieser staatlich lizenzierten Erfolgstory aussichtslos? Warum sollte eine klemmende Schusswaffe der Grund sein, sich selbst zu erschießen, anstatt die zahlreichen anderen Waffen zu benutzen, die sich im Campingwagen befanden?
Und wenn der 4. November 2011 ausnahmsweise aussichtslos war: Warum bringen sich Neonazis um, verbrennen gleichzeitig sich und den Campingwagen? Wer hatte Beate Zschäpe informiert, die wenig später auch ihre gemeinsame Wohnung in Brand setzte? Welchen Grund sollte Beate Zschäpe gehabt haben, sich den Behörden zu stellen, obwohl sie vier Tage Zeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen?
Menschen, die sich in aussichtsloser Lage umbringen, kümmern sich nicht um Spuren, die sie zurücklassen. Um die Beseitigung belastender Spuren sorgen sich in aller Regel Lebende!
Das In-Brand-Setzen des Campingwagens, das Abbrennen des Basislagers/ Hauses in Zwickau macht nur Sinn, wenn jemand nicht an den Tod denkt, sondern an die Zeit danach. Der Brand des Hauses in Zwickau, das In-Brand-Stecken des Wohnwagens, in dem sie sich umgebracht haben sollen, lassen andere Motive plausibler erscheinen. Wurde hier etwa ein Selbstmord inszeniert?
Warum wurde, warum wird nicht allen Hinweisen und Indizien nachgegangen, die ein ›Fremdverschulden‹ nahelegen?
Die Selbstmordthese erklärt sich weder aus den vorangegangenen Ereignissen, noch gibt es nicht einen überzeugenden Beweis dafür. Für die Möglichkeit eines ›Fremdverschuldens‹ sehr wohl: Nach der offiziellen Version sollen sich die Selbstmorde wie folgt zugetragen haben: Uwe Mundlos nimmt sich eine Pumpgun, erschießt zuerst Uwe Böhnhardt (durch einen Kopfschuss) und dann sich selbst (Schuss in die Brust). Als Beweis werden zwei Hülsen angeführt, die im Campingwagen gefunden wurden: »Die beiden ausgeworfenen Patronenhülsen der Marke Benneke waren jeweils 70 Millimeter lang. Polizisten fanden sie direkt neben den Leichen.« (Focus-Magazin, Nr. 38/2012)
Die Tatsache, dass die zwei Patronen aus derselben Waffe stammen, mag stimmen. Dass jedoch zugleich zwei Hülsen gefunden wurden, ist ein Ding der Unmöglichkeit – wenn es ein Selbstmord gewesen sein soll.
Eine Pumpgun ist ein Repetiergewehr: Die Hülsen werden erst ausgeworfen, wenn nachgeladen wird. Dass Uwe Mundlos nachläd, nachdem er seinen Kameraden umgebracht hat, ist nachvollziehbar. Dass Uwe Mundlos ein weiteres Mal nachläd, nachdem er sich selbst umgebracht hat, ist auszuschließen. Für die zweite Hülse kann es nur eine logische Erklärung geben: Es kann nur jemand nachgeladen und die zweite Hülse auswerfen, der noch lebt.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass sich nicht alle Medien mit diesen eklatanten Widersprüchen abfinden. In der N24-Dokumentation ›Der NSU – Eine Spurensuche‹ vom 4. November 2013 kommt u.a. der Waffenbauer Siegmund Mittag zu Wort. Anhand einer baugleichen Winchester demonstriert er, dass es bei dieser komplett manuell zu bedienenden Langwaffe unmöglich ist, die Selbstmordthese mit den gefundenen zwei ausgeworfenen Hülsen aufrecht zu erhalten: »Geht nicht«, ist seine klare Antwort.
Auch die mittlerweilen nachgeschobene Erklärung von Ermittlern, Uwe Mundlos habe im Todeskampf noch einmal nachgeladen, hält der Waffenexperte angesichts der gewendeten Munition für völlig ausgeschlossen.
Gegen eine Selbsttötung sprechen weitere Indizien: Auf der Waffe, eine Winchester, befanden sich keine Fingerabdrücke: »Auf keiner der Waffen werden Fingerabdrücke gefunden.« (›Das Zwickauer Terror Trio‹, S. 282). Demnach müßte Uwe Mundlos Handschuhe getragen haben oder als Toter die Spuren beseitigt haben. Letzteres sollte man für ausgeschlossen halten. Und Ersteres war nicht der Fall: Auf dem Tatortfoto, das den leblosen Mundlos zeigt, trägt dieser keine Handschuhe.
All diese eklatanten Widersprüche könnten möglicherweise durch die Öffentlichmachung der kriminal- und waffentechnische Gutachten ›aufgeklärt‹ werden. Aber genau dies geschieht nicht: »Die Generalbundesanwaltschaft hat Polizeiprotokolle, Ermittlungsstände und Obduktionsberichte zum 4. November 2011 unter Verschluß genommen.« (Bodo Ramelow, Staatsgeheimnis um NSU, 11.1.2013)
Wolf Wetzel