mustafa kocak

TODESFASTEN IN DER TÜRKEI

»Wenn wir warten, wird es für Mustafa zu spät sein«
Linker Aktivist hungert in türkischer Haft, um fairen Prozess zu erreichen. Komitee organisiert Solidarität. Ein Gespräch mit Ezgi Cakir
Interview: Henning von Stoltzenberg Junge Welt 21.4.20

Ezgi Cakir ist die Rechtsanwältin von Mustafa Kocak

Ihr Mandant Mustafa Kocak befindet sich derzeit im Hungerstreik. Schon länger gibt es Kritik, dass Kocak als politischer Gefangener in türkischer Haft misshandelt wird (jW berichtete). Wie ist seine Situation?

Mustafa befindet sich bereits seit über 290 Tagen im Hungerstreik. Seine Hauptforderung ist die nach einem fairen Verfahren und nach seiner Gleichbehandlung vor Gericht. Mustafa wurde zu erschwerter lebenslanger Haft verurteilt. Ihm wird vorgeworfen, eine Waffe beschafft zu haben, mit der 2015 ein Staatsanwalt getötet worden sein soll. In den Prozessakten findet sich dazu aber nichts Belastbares. Es gibt lediglich zwei Zeugen, die sich widersprechen. Einer der beiden änderte während des Prozesses seine Aussage und schrieb einen Brief, in dem er darlegte, dass er von Polizisten und dem Geheimdienst gefoltert und bedroht worden war. Er schrieb, seine Aussage ändern zu wollen. Aber das Gericht hat dieses Ersuchen illegalerweise verworfen.

Mustafa will erreichen, dass der Zeuge erneut angehört wird. Aber selbst diese simple Forderung wurde vom Gericht abgewiesen, weswegen Mustafa seine Aktion startete.

Was wird Mustafa Kocak außerdem vorgeworfen?

Es wird behauptet, dass er versucht, den türkischen Staat zu stürzen, und »Mitglied der terroristischen Organisation DHKP-C« sei.

Vor kurzem starb mit Helin Bölek eine Musikerin der populären linken Band Grup Yorum im Hungerstreik, die zuvor 288 Tage die Nahrungsaufnahme verweigert hatte (jW berichtete). Sie hatte damit gegen die anhaltende Kriminalisierung der Musikgruppe protestiert. Warum entscheiden sich Linke für diesen Weg?

Aus der Sicht einiger von Repression betroffenen Aktivisten ist dies das letzte Mittel. Sie sagen: »Wir haben alle Wege ausprobiert. Wir haben unser Recht auf Eingaben und Anträge genutzt, haben versucht, uns zu verteidigen. Aber wir können keine Lösung finden. Jetzt, als letzte Möglichkeit, benutzen wir unseren Körper.« Helin starb, und vielleicht werden weitere sterben, aber sie entscheiden sich für ihre Würde und Überzeugungen wie bereits viele politische Gefangene in der Geschichte der Türkei vor ihnen.

Wie ist die Situation der politischen Gefangenen in der Zeit von Corona?

Ihre Situation hat sich nicht ernsthaft verändert. Die Regierung sagt, sie habe die Gefängnisse gut ausgestattet, also gäbe es keine Coronafälle. Vergangene Woche wurde in der Türkei entschieden, den offenen Strafvollzug für einige auszusetzen (jW berichtete). Ein neues Gesetz ermöglicht es, Inhaftierte vor Verbüßung ihrer Strafe zu entlassen, doch das gilt nicht für politische Gefangene.

Wie reagieren staatliche Behörden auf den Protest Ihres Mandanten?

Wir versuchen, Kontakte zu staatlichen Stellen sowie dem Innen- und Justizminister herzustellen. Dafür wurde ein Solidaritätskomitee gebildet, das aus Ärzten, Anwälten, Menschenrechtsaktivisten und Künstlern besteht. Aber wir kommen nicht so richtig weiter. Es besteht eine starke Zensur von seiten des Staates und dessen Medien, die wir zu überwinden versuchen. Heute kennen sehr viele Menschen Mustafas Fall, das ist ein Resultat des Hungerstreiks.

Wie sollten internationale Institutionen und speziell linke Kräfte auf die Repression reagieren?

Wie gesagt, seine Forderungen sind einfach und erfüllbar. Die Anhörung dieses Zeugen ist ausschlaggebend für den Prozess. Solidarische Kräfte müssen Druck aufbauen, damit der türkische Staat sein eigenes Recht anwendet. Es ist fast ironisch, dass ein linker Aktivist wie Mustafa auf die Anwendung der juristischen Reglements pochen muss. Wir sind sicher, dass das Urteil kassiert werden wird, wenn dieser Fall vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kommt. Aber wenn wir darauf warten, wird es für Mustafa zu spät sein. Deswegen müssen viele Initiativen und Einzelpersonen aus Europa ihre Stimme erheben. Solidarität ist die stärkste Kraft, sie kann Mustafa retten.