Nicht selten kommt der deutsche Untertanengeist einer bitterbösen Posse sehr nahe. Die hier erzählte Geschichte ist so dumm und so selbstentlarvend, dass man von einem Fake ausgehen müsste. Geht aber nicht: Der deutsche Untertanengeist ist so gewissenhaft, so verbissen, so ordentlich, dass man nicht länger darüber lachen sollte. Es ist nicht lustig.
Die (eine) Geschichte spielte in Berlin der 1930er Jahre. Erich Kästner beschreibt sie unspektakulär und alltagsnah. Er besucht eine Boxveranstaltung. Bevor der Kampf losgeht, wird ein faschistisches Lied angestimmt. Alle um ihn herum stehen auf, singen mit und machen dabei den Hitlergruß. Der war damals en vogue und ein Zeichen, dazuzugehören. Erich Kästner will eigentlich nicht mitmachen, aber er fühlt sich, er ist damit allein. Er steht mit allen anderen auf, bewegt die Lippen und kommt gerade so um den Hitlergruß herum. Er fühlt sich schlecht, alle anderen sind begeistert dabei.
Die andere Geschichte spielt auch in Berlin, im Jahr 2024: Im Gymnasium Tiergarten steht die Abiturfeier an. Die Schulleitung bekommt Wind davon, dass einige, also zu viele Abiturienten mit einem Palästinensertuch das Abschlusszeugnis entgegennehmen wollen. Das hat bereits in den USA für großes Aufsehen gesorgt. Dort hat das Stadioncharakter und war in der Tat beeindruckend. Man sieht, wie StudentInnen durch die Stuhlreihen nach vorne gehen, in Richtung Podium, um ihr Zeugnis entgegenzunehmen. Einige, also viel zu viele tragen dabei das Palästinensertuch. Man bekommt mit, dass viele, viel zu viele dieser Sympathiekundgebung Respekt zollen, aufstehen und applaudieren. Die Tatsache, dass die US-Regierung einen Genozid in Gaza ermöglicht, deckt und bewaffnet, ist nicht mehr zu verheimlichen und auch kein Ausnahmefall, sondern normal für eine US-Regierung, die bis heute noch allen Ernstes glaubt, behauptet und fantasiert, dass sie die Welt anführen würde.
Obwohl man von den USA weiß, dass fast überall Protestcamps gegen die US-Politik und für den palästinensischen Widerstand mit Repressionen bedroht waren und sind, fanden diese großen Abschlussfeierlichkeiten dennoch statt.
Der vorauseilende Gehorsam
Da dachten sich die deutschen Staatslemminge, dass sie viel schlauer sind. Die Schulleitung hatte die pro-palästinensischen Sympathiekundgebungen vor Augen … und sagte die feierliche Zeugnisverleihung des Abiturjahrgangs ab: „Etwa die Hälfte der Schüler:innen hatte zuvor per Whatsapp erklärt, sich auf der Feier mit Palästina solidarisch erklären zu wollen, etwa durch das Tragen der Kufiya.“ (Tagesspiegel vom 5.7.2024)
Eigentlich könnte man dankbar sein, im Land der Massenmörder und Kriegsverbrecher, dass junge Menschen sich gegen das Mitmachtum stellen, dass sie Menschheitsverbrechen nicht gut finden, nur, weil es die vorgeblich „Guten“ tun. Man könnte stolz darauf sein, dass sie die Festtagsreden vom „Nie wieder Faschismus. Nie wieder Krieg“ ernst nehmen und im Hier und Jetzt anwenden. Man könnte vor allem im Land der Täter stolz darauf sein, dass junge Menschen Lehren aus der deutsche Geschichte ziehen, anstatt diese zu verhöhnen, auf den Kopf stellen und wiederbewaffnen. Man könnte auf die Idee kommen, mit den SchülerInnen darüber zu diskutierten:
Warum verhält sich die Schulleitung so unterwürfig?
Warum fördert sie nicht die SchülerInnen darin, eine eigene Meinung zu haben und zu vertreten?
Was ist an einem Vernichtungskrieg verteidigenswert?
Ist das immer wieder vorgebrachte Recht auf Selbstverteidigung ein einleuchtender Grund – auch dann, wenn sich Israel in besetztem Gebiet „selbstverteidigt“?
Sieht sich die Schulleitung im Geiste des UN-Völkerrechts, das explizit jenen ein Widerstandsrecht garantiert, die unter einer Besatzungsmacht leben müssen?
Reife Leistung
Aber genau diese Auseinandersetzung will die Schulleitung unter keinen Umständen, schon gar nicht öffentlich. Damit steht sie nicht alleine, sondern weiß Landes- und Bundesregierung von schwarz bis grün-rot hinter sich.
Aber man weiß auch, dass diese Methode des Silencing, aber auch der Denunziation, immer weniger greift. Das hat dann die Schulsenatorin auf den Plan gerufen: Sie setzte eine Zeugnis-Ersatzveranstaltung mit Kleingruppen an, um den Schein zu wahren.
Ich finde, wenn sich eine Schulsenatorin so viel Mühe gibt, sich wegzuducken, könnte sie doch auch gerade stehen und eine öffentliche Veranstaltung anbieten, in der sie erklärt, warum eine Solidaritätsbekundung für den palästinischen Widerstand nicht ein besonderes Zeugnis (wert) ist, also einen Beweis für die erforderliche „Reifeprüfung“.
Die SchülerInnen reagierten auf diese Verschweigepolitik und kündigten eine Demonstration für den darauf folgenden Tag an. Die Schulsenatorin bekam sofort einen Rückfall in Richtung Posse: Die Zeugnis-Ersatzveranstaltung mit Kleingruppen „fand wegen der Demo einen Tag vorher unter Polizeibeobachtung in der Aula der Schule statt und verlief ebenfalls friedlich“.
Dennoch kam es zu dem, was Schulleitung und Schulsenatorin unter allen Umständen verhindern wollten: Über 100 Menschen protestierten am Gymnasium Tiergarten:
„Neben der hohen Zahl der Todesopfer beim israelischen Einsatz im Gazastreifen wurde (…) in den Redebeiträgen auch das Vorgehen der Schule scharf kritisiert. Eine Rednerin der ‘Jüdischen Stimme’ bescheinigte den Abiturient:innen unter Beifall, anlässlich ihrer Hochschulreife mehr persönliche Reife gezeigt zu haben als ihre Lehrkräfte. Eine Schülerin der Schule erklärte am Mikrofon, sie könne das Gymnasium Tiergarten nicht empfehlen: ‚Ihr dürft hier nicht sein, wie ihr seid.‘ Eine Lehrerin habe zu ihr gesagt: ‚Mach die Kufiya weg, und dein Scheiß-Kopftuch‘.“ (Tagesspiegel, s.o.)
Was mit dem woken Regierungs-Berlin los? Antirassismus gehört doch zum Regierungsbesteck?
Wer diese Vortäuschungen und Placebo-Attitüden satt hat, der bekommt es hier schwarz auf weiß: Anti-Rassismus ist nur eine Karte, die man zieht, wenn es gerade passt. Keine Frage, die Landesregierung in Berlin und die Bundesregierung in Berlin haben nichts gegen Schwarze, gegen Muslime, gegen „Kopftuchträger“ und mehr – wenn sie in den zentralen Fragen das Maul halten bzw. nicht auffällig werden. Zu diesen zentralen Fragen gehört Neo-Kolonialismus, Kriegspolitik und Herrenmenschentum. Diesbezüglich gilt nicht queer, sondern binär.
Im Schulfach Untertanengeist gibt es noch einen Nachschlag
Man nimmt an, das Duckmäusertum müsse grau und fantasielos sein. In Deutschland nicht. Denn genau dort ist Fantasie und Kreativität gefragt. Und da sind Deutsche mit Herz und Seele dabei:
„Schulleitung hatte den Freitag zu Wandertag erklärt
Offiziell aus Sicherheitsgründen, aber wohl vor allem, um die Teilnahme einer größeren Schüler:innenzahl an der Demo zu verhindern, hatte die Schulleitung den Freitag zu einer Art Wandertag erklärt und veranlasst, dass alle Klassen mittags zu „Exkursionen“ in ihren Bezirk aufbrachen und von dort aus nach Hause entlassen wurden.“ (s.o.)
Bevor es zu spät ist
Am 10. Mai 1958 sprach Erich Kästner in einer Gedenkrede in Hamburg bei der Tagung des PEN Deutschland anlässlich des 25. Jahrestages der Bücherverbrennung über all das, was den Bücherverbrennungen vorausging:
„Die Ereignisse von 1933 bis 1945 hätten spätestens 1928 bekämpft werden müssen. Später war es zu spät. Man darf nicht warten, bis der Freiheitskampf Landesverrat genannt wird. Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muss den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat. Das ist die Lehre, das ist das Fazit dessen, was uns 1933 widerfuhr. Das ist der Schluss, den wir aus unseren Erfahrungen ziehen müssen, und es ist der Schluss meiner Rede. Drohende Diktaturen lassen sich nur bekämpfen, ehe sie die Macht übernommen haben.”
Wolf Wetzel
Quellen und Hinweise:
Palästina-Demo vor Berliner Schule: Rund 100 Menschen protestieren am Gymnasium Tiergarten, Tagesspiegel vom 5.7.2024: https://www.tagesspiegel.de/berlin/palastina-demo-vor-berliner-schule-rund-100-menschen-protestieren-am-gymnasium-tiergarten-11971625.html
Wege in den Krieg. Über Wortführer und Platzverweise, Wolf Wetzel, 2023: https://wolfwetzel.de/index.php/2023/11/14/wege-in-den-krieg-ueber-wortfuehrer-und-platzverweise/
Über die Ebbe – auch in den Köpfen der „Klugen“ und über eine Zeit, die kalte Füße bekommt, Wolf Wetzel, 2019: https://wolfwetzel.de/index.php/2019/10/10/ueber-die-ebbe-auch-in-den-koepfen-der-klugen-und-ueber-eine-zeit-die-kalte-fuesse-bekommt/