KLASSENJUSTIZ

»Das Bekenntnis zu linker Haltung wird bestraft«
Stuttgart: Landgericht verhandelt Berufung gegen ein Urteil zur »Krawallnacht«. Ein Gespräch mit Anja Sommerfeld
Interview: Gitta Düperthal

Justizbeamter schließt Tür zum Gerichtssaal, in dem zur »Krawallnacht« verhandelt wird (Stuttgart, 13.1.2021)
Anja Sommerfeld ist Mitglied des Bundesvorstands der Solidaritätsorganisation Rote Hilfe e. V.

Das Amtsgericht Stuttgart hatte Ende Oktober 2022 im Zusammenhang mit der sogenannten Stuttgarter »Krawallnacht« vom Juni 2020 zwei harte Urteile von mehr als drei Jahren Haft gegen zwei linke Aktivisten gefällt. Am Donnerstag wird vorm Landgericht Stuttgart die Berufung gegen eines davon in Berufung verhandelt. Was wurde den Angeklagten vorgeworfen?

In jener Nacht auf den 22. Juni 2020 gab es wütende Massenproteste, deren Ausgangspunkt eine rassistische Polizeikontrolle am Eckensee war. Den Genossen wird vorgeworfen, daran beteiligt gewesen zu sein. Konkret ging es um Vorwürfe wie den Wurf von Gegenständen oder Sachbeschädigung an Gebäuden. Dies wird ihnen als Landfriedensbruch, tätlicher Angriff oder versuchte gefährliche Körperverletzung ausgelegt. Zusätzlich werden ihnen noch antifaschistische Aktionen oder Teilnahme an linken Demos zur Last gelegt. Hier wird ein unbedingter Verfolgungswille der Justiz sichtbar.

Das Gericht soll die politische Überzeugung der Angeklagten strafverschärfend gewertet haben. Wie wurde das begründet?

Im Fall, in dem die Richterin einen Aktivisten zu drei Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilte, der nun in Berufung geht, sprach sie von »ideologischer Verblendung«. Der Angeklagte werde das noch »in 20 Jahren auch so machen«, behauptete sie. Diese Form von politischer Justiz ist nicht hinnehmbar. Da müssen wir gegensteuern. Dieser politisch motivierte Prozess soll offenbar der Abschreckung und Einschüchterung dienen. Und die Urteile sollen offenbar ein Signal setzen, dass solch ein Engagement kriminalisiert wird, vor allem bei klarem politischen Auftreten. Das Bekenntnis zu einer politischen, linken Haltung wird bestraft.

Laut Roter Hilfe basieren diese Prozesse auf fragwürdigen Gutachten, illegalen Videoaufnahmen und unklaren Indizien. Was ist damit gemeint?

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Weil sich die Wut aufgrund der rassistischen Polizeikontrolle in der Nacht spontan äußerte, gibt es einzig unscharfe Aufnahmen vom Geschehen. Die Identifizierung der Angeklagten erfolgte auf Grundlage von minimalen Kriterien, wie Kleidung, Haltung, Gestik. Sehr fragwürdige Gutachten wurden herangezogen sowie auch Videos, die teilweise rechtswidrig entstanden sind: aufgenommen von Tesla-Autos im sogenannten Wächtermodus. Solche Videos waren Grundlage zur Verurteilung!

Was könnte mit so einem Justizvorgehen bezweckt werden?

Wir werten es als gezielte Maßnahme, um Linke in Verruf zu bringen. In Stuttgart wüten die Repressionsbehörden schon seit Jahren gegen linke Strukturen sowie Aktivistinnen und Aktivisten. Ständig kommt es zu Hausdurchsuchungen und Festnahmen. Mit »Jo«, »Dy« und »Findus« sitzen bereits drei weitere Antifaschisten mit langen Haftstrafen hinter Gittern. Die reaktionäre Wegsperroffensive kennt keine Grenzen.

Wie bewerten Sie die Rolle der baden-württembergischen Landesregierung von Bündnis 90/Die Grünen und CDU?

Diese versucht, strukturelle Probleme über Repression zu lösen. Unmittelbar nach der »Krawallnacht« forderte Landesinnenminister Thomas Strobl von der CDU die Justiz auf, harte Strafen zu verhängen, um Exempel zu statuieren. Die Justiz folgte dem. Die Landesregierung hätte sich statt dessen mit den massiven Benachteiligungen gegen die hauptsächlich migrantischen Jugendlichen auseinandersetzen müssen. Auslöser des Ganzen waren schließlich die rassistischen, schikanösen Polizeikontrollen im Juni 2022. Man hat es aber vorgezogen, die jungen Menschen mit Prozessen zu überziehen und zu kriminalisieren.

Und wie erklären Sie sich, dass es mit Beteiligung der Grünen passiert?

Wenn es darum geht, linke Bewegungen einzuschüchtern, sind die Grünen stets dabei – nicht nur in Baden-Württemberg. In Hessen oder Nordrhein-Westfalen, wo die CDU mit grüner Beteiligung regiert, wird aggressiv gegen die Klimabewegung vorgegangen. Das war bei den autoritären, repressiven Polizeieinsätzen im Dannenröder Wald gegen die Autobahngegner in Hessen ebenso der Fall wie auch in Lützerath in NRW, wo die Proteste gegen den Braunkohletagebau eingedämmt werden sollten.

junge Welt 1.2.23