In einem Interview schürt Patrick Sensburg Angst vor einem bevorstehenden Angriff Russlands. Er fordert daher, dass die aktive Reserve der deutschen Armee auf 100.000 vergrößert und ein Sondervermögen für sie bereitgestellt werden müsse. Die Äußerungen sind Teil einer allgemeinen Militarisierungskampagne der deutschen Bevölkerung.
In einem Interview mit dem Stern forderte Patrick Sensburg, Präsident des Reservistenverbandes, die Verdreifachung der aktiven Bundeswehr-Reserve. Hiermit sind solche früheren Soldat:innen gemeint, die ihren Dienstgrad nicht verloren haben und zusätzlich fest auf einen Dienstposten eingeplant sind. An diesen Dienstposten würden aktive Reservist:innen im Kriegsfall verlegt werden, wenn die Berufs- und Zeitsoldat:innen, welche sie vertreten sollen, an die Front geschickt würden.
Die aktive Reserve besteht laut Sensburg zurzeit aus etwa 33.000 Personen, während die allgemeine Reserve etwa 930.000 Personen umfasst. Die aktive Reserve unterscheidet sich auch insofern vom Rest der allgemeinen, als dass sie regelmäßig Übungen an sogenannten Spiegelstellen durchführt.
Zusätzliches Sondervermögen für die Reserve gefordert
Im Interview stellt Sensburg insbesondere Russland als reale Bedrohung nicht nur für die Ukraine, sondern auch Deutschland und den Rest Europas dar. In einem verschärften Kriegsfall müsse Deutschland vor allem Soldat:innen an die NATO-Ostflanke schicken. Sensburg fordert daher eine Erhöhung der aktiven Reserve auf 100.000.
Gleichzeitig stellt er klar, dass eine solche Verdreifachung effektiv noch nicht einmal ausreichen würde – insbesondere sollte der hypothetische Angriff Russlands nicht schnell genug abgewehrt werden, sodass in einer zweiten und dritten „Welle“ auch alle ehemaligen Wehrpflichtigen und Ex-Berufsoldat:innen unter 65 Jahren eingezogen würden.
Zusätzlich beklagt Sensburg, der von 2009 bis 2021 für die CDU im Bundestag saß, dass die Ausrüstung der Bundeswehr immer noch mangelhaft sei. Er fordert daher ein zusätzliches Sondervermögen für die Reserve. Sensburg freute sich hingegen über die klaren Worte des Kriegsministers Boris Pistorius. Dieser forderte, dass die Bundeswehr nun „kriegstüchtig“ werden solle.
Sensburg fügte hinzu, dass die abschreckende Botschaft „Legt euch besser gar nicht erst mit uns an!“ nach außen vermittelt werden müsse. Dass die zunehmende Vorbereitung auf den Kriegsfall Früchte zeigt, sieht man auch daran, dass der Reservistenverband laut Sensburg zurzeit immer mehr freiwillige Mitglieder gewinnt.
Die Bundeswehr soll kriegstüchtig, und die Bevölkerung kriegswillig gemacht werden
Auf der einen Seite lässt sich die Umstellung der Bundeswehr auf eine Berufsarmee als ein bewusster Kurswechsel verstehen. Militärisches Personal würde demnach nur noch für dezidiert militärische Aufgaben ausgebildet werden. Andere, ebenfalls für die Kriegsinteressen Deutschland zuträgliche Aufgaben wie Logistik oder bestimmte Dienstleistungen würden stattdessen in den zivilen Sektor verlagert werden.
Indem die Mentalität der meist nicht sonderlich kriegsfreudigen deutschen Bevölkerung geändert wird, soll diese offen oder sogar dankbar dafür werden, wenn z.B. erneut Militärkolonnen auf der Autobahn zu sehen sind. Dass in der Kriegspropaganda immer wieder betont wird, viele verschiedene Schauplätze im Auge behalten zu müssen, kann als Auftakt eines potentiell bevorstehenden dritten Weltkriegs angesehen werden.
Auf der anderen Seite erfolgt diese gezielte Veränderung der Überzeugungen der Bevölkerung meist in kleinen, aber stetigen Schritten – auch „Salami-Taktik“ genannt. Diese Taktik soll dazu führen, dass die Arbeiter:innenklasse immer mehr vermeintlich kleine Zugeständnisse in Richtung Militarisierung macht. Auch wenn Sensburg im interview mit dem Stern keine Kritik am Konzept der Berufsarmee äußerte, kann auf diese Weise sogar erhöhte Zustimmung zur Wiedereinführung der Wehrpflicht erzeugt werden. Diese wird schließlich von nicht wenigen Politiker:innen gefordert, allen voran Kriegsminister Pistorius
Eröffnung der Hauptverhandlung gegen Tahir Köçer in München
Die Hauptverhandlung gegen den vor einem Jahr in Nürnberg festgenommenen kurdischen Politiker Tahir Köçer beginnt am 8. Januar am OLG München. ANF sprach mit seinem Anwalt Michael Brenner über die Haftbedingungen und den bevorstehenden Prozess.
Vor genau einem Jahr fand eine Razzia in den Räumlichkeiten des Medya Volkshaus e.V. in Nürnberg sowie in zwei Privatwohnungen statt. Sie galt dem kurdischen Politiker Tahir Köçer, ehemaliger Ko-Vorsitzender des kurdischen Dachverbands KON-MED und Mitglied im Nationalkongress Kurdistan (KNK). Er wurde wegen mutmaßlicher Mitgliedschaft in oder Unterstützung der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) festgenommen und sitzt seitdem in der JVA München in Untersuchungshaft.
Nun sind die Ermittlungen abgeschlossen, und die Hauptverhandlung nach §§129a/b StGB soll am 8. Januar beginnen. ANF konnte mit dem Nürnberger Rechtsanwalt Michael Brenner, der Tahir Köçer vertritt, sprechen:
Herr Brenner, Sie sind der Anwalt von Tahir Köçer, der am 22. Dezember 2022 in Nürnberg verhaftet wurde und sich seitdem in der JVA München-Stadelheim in Untersuchungshaft befindet. Wie geht es Herrn Köçer heute? Wie sind seine Haftbedingungen?
Herrn Köçer geht es den Umständen entsprechend gut. Aber natürlich hat er auch mit Einschränkungen in der Haft zu kämpfen. Zu nennen ist da beispielsweise, dass in der JVA München-Stadelheim keine kurdischen Fernsehsender zu empfangen sind. Es laufen ausschließlich staatstragende türkische Fernsehsender. Herr Köçer hat mit anderen Inhaftierten Unterschriften gesammelt, dass dieser Zustand sich ändert. Leider ist bisher noch keine Bewegung in die Sache gekommen.
Ferner gibt es immer wieder Probleme bei dem Empfang von Zeitungen oder ähnlichem. So wird derzeit die Gefangenen-Info der Roten Hilfe zurückgehalten, obwohl er sie auch schon zweimal erhalten hat.
Hinzu kommen auch gesundheitliche Probleme. Zwar bekommt Herr Köçer Zugang zu medizinischer Behandlung, allerdings verbessert sich sein Zustand in der Haft nicht.
Die Untersuchungshaft dauert nun schon zwölf Monate. Sind die Ermittlungen gegen ihn mittlerweile abgeschlossen? Gibt es schon eine Anklageschrift?
Die Ermittlungen sind jetzt abgeschlossen, eine Anklage wurde erhoben und das OLG München hat die Anklage bereits zugelassen.
Was genau wird Tahir Köçer vorgeworfen?
Ihm wird vorgeworfen, von Anfang Juli bis zu seiner Festnahme am 22. Dezember 2022 als PKK-Gebietsverantwortlicher im Raum Nürnberg und zugleich als PKK-Regionsverantwortlicher für Bayern tätig gewesen zu sein. Dadurch soll er sich wegen der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung im Ausland strafbar gemacht haben.
Diese Vorwürfe kennen wir aus anderen §§129a/b-Verfahren gegen kurdische Aktivist:innen, denen eine „Kadertätigkeit“ für die PKK vorgeworfen wird. Sehen Sie in diesem Fall Unterschiede zu anderen Anklagen?
Ein Unterschied liegt schon darin, dass Herr Köçer seit langem als Mitglied des Nationalkongresses Kurdistan und ehemaliger Ko-Vorsitzender der Konföderation kurdischer Organisationen KON-MED ein bekannter Politiker und einer der wichtigsten Repräsentanten der kurdischen Community in Deutschland ist. Er ist seit Mitte der 90er Jahre als Flüchtling in Deutschland anerkannt, weil ihm Verfolgung durch den türkischen Staat drohte; er lebt hier mit rechtmäßigem Aufenthalt mit seiner Familie und setzte sich im Exil öffentlich und weithin bekannt für die kurdische Sache ein.
Das liegt selbstredend auch in seiner Biographie begründet. So war Herr Köçer in der Türkei willkürlicher Repression ausgesetzt. Er wurde zu einer Haftstrafe verurteilt, gefoltert und saß mehrere Monate in Haft. Viele seiner Familienmitglieder wurden von der türkischen Armee getötet.
Gibt es schon einen Termin der Prozesseröffnung?
Der erste Hauptverhandlungstag findet am 8. Januar 2024 um 10:00 Uhr am Münchner Strafjustizzentrum statt.
Noch eine Frage zum Schluss: Die Zahl der kurdischen Aktivist:innen in deutscher Straf- oder Untersuchungshaft hat sich in den letzten Jahren nicht wesentlich verändert. Aber es kann beobachtet werden, dass europaweit die Repression gegen Kurd:innen anzieht. Zum Beispiel lieferte Zypern in diesem Jahr Kenan Ayaz nach Deutschland aus aufgrund des türkischen Missbrauchs der „roten Liste“ von Interpol. Oft wird nun auch nach der Strafhaft noch eine sogenannte Führungsaufsicht verhängt. Wie beurteilen Sie diese Situation? Wie kann dem begegnet werden?
Das hat sicher auch politische Gründe. Die EU hat sich mit dem EU-Türkei-Abkommen gegenüber Erdoğan erpressbar gemacht. Gleiches lässt sich bei der Aufnahme von Schweden in die Nato beobachten. Die AKP-Regierung diktiert der EU und anderen Staaten eine härtere Gangart gegenüber Kurd:innen und es wird gekuscht.
Solange die Türkei tausende Geflüchtete zurückhält, wird jeglicher rechtlicher, aber auch moralischer Kompass über Bord geworfen. Entsprechend wird auch seit Jahren hingenommen, dass die Türkei fortlaufend mit den Bombardierungen im Nordirak Völkerrecht bricht. Das müsste auch Konsequenzen auf die Behandlung des Konflikts durch deutsche Gerichte haben, wie wir im Strafverfahren gegen Herrn Köçer thematisieren werden.
Vielen Dank für Ihre Erläuterungen und Ihnen und Herrn Köçer alles Gute!
Wie alle Gefangenen freut sich auch Tahir Köçer über Post im tristen Gefängnisalltag. Seine Adresse ist: Tahir Köçer, Stadelheimer Str. 12, 81549 München. Außerdem wird zur solidarischen Prozessbegleitung aufgerufen: 8. Januar 2024, 10:00 Uhr, Nymphenburger Straße 16, 80335 München