»Wir haben mit unversehrten Herzen überlebt«

Leonard Peltiers Erinnerungen an seine Kindheit im Umerziehungsinternat für indigene Kinder
Von Leonard Peltier

Leonard Peltier ist seit seiner Jugend Aktivist des American Indian Movement (AIM) und seit 46 Jahren politischer Gefangener der US-Regierung, verurteilt zu zweimal lebenslänglich wegen Mordes an zwei FBI-Beamten. Er hat immer betont, nicht für ihren Tod verantwortlich zu sein. Seit Jahrzehnten fordert eine weltweite Solidaritätsbewegung die Freilassung des Bürgerrechtlers.

Als der indigene Aktivist Leonard Peltier am 1. Juni 2022 im Newsblog Native News Online seine Erinnerungen über die qualvollen Jahre 1952 bis 1955 in einem der nordamerikanischen »Indianerinternate« veröffentlichte, war das Thema noch nicht in aller Munde. Seit Papst Franziskus sich auf seine »Büßertour« zu den First Nations nach Kanada begeben hat, reihen sich Peltiers Erfahrungen ein in den Kanon Hunderttausender indigener Kinder, die in den oft von der römisch-katholischen Geistlichkeit im Auftrag der Regierungen Kanadas und der USA betriebenen Einrichtungen geschunden, geschändet und ermordet wurden. »Kill the Indian. Save the Man« – »Töte den Indianer, rette den Menschen in ihm« lautete 1879 das rassistische Motto von US-General Richard Henry Pratt, dem Erfinder dieser Internate. Peltier beschreibt, wie er als Kind die Hölle der zwangsweisen kulturellen Umerziehung und Anpassung an die weiße Gesellschaft erlebte.

Mein Name ist Leonard Peltier, und ich bin 77 Jahre alt. Ich bin Mitglied des Stammes der Turtle Mountain Chippewa. Ich bin ­Anishanaabe und Dakota. Mit neun Jahren wurde ich zur Wahpeton Indian School, einem indianischen Internat in Wahpeton, North Dakota, gebracht und verließ es erst mit zwölf Jahren. Dies ist meine Geschichte.

Als ich 1952 meinen Großvater verlor, veränderte sich mein Leben für immer. Er war ein guter und liebevoller Mann, der mein Mentor war und wusste, wie man von dem lebt, was uns Mutter Erde gibt. Aber dann bekam er eine Lungenentzündung und überlebte sie nicht. Ich werde nie vergessen, wie ich am Fußende seines Bettes stand und ihn sterben sah. Selbst jetzt, wenn ich nachts auf meiner Pritsche in einem Bundesgefängnis liege, kommt mir diese traurige Erinnerung wieder in den Sinn.

Etwa ein Jahr nach dem Tod meines Großvaters musste meine Großmutter zum Bureau of Indian Affairs (BIA) gehen und für sich selbst und mich sowie meine Schwester Betty Ann und meine Cousine Pauline um Hilfe bitten. Wie sich herausstellte, machte das für uns alles noch viel schlimmer. Von diesem Moment an mussten wir befürchten, dass die BIA-Agenten kommen und uns mitnehmen würden. Ich bin mit diesen Geschichten aufgewachsen. Ich war alt genug, um zu wissen, was passiert, wenn jemand von der Obrigkeit kommt und einen mitnimmt. Ich wusste, dass einige Kinder nie wieder nach Hause kamen.

Also hielten wir – meine Großmutter, meine Schwestern und ich – von der Spitze des Hügels aus Ausschau nach neuen Autos. Die Autos der Indianer waren alt und machten viel Krach, die hörten wir schon von weitem. Wir waren immer darauf vorbereitet, fortzulaufen und uns im Wald zu verstecken.

Eines Tages jedoch vergaß ich, wegzulaufen und mich zu verstecken, die Mädchen versteckten sich im Haus. Ein glänzendes Auto fuhr den Hügel hinauf und hielt vor unserem Haus. Ein Mann stieg aus einem 1952er Chevy Fleetline.

Ich werde dieses Behördenauto niemals vergessen.

Großmutter verstand nicht viel von dem, was der Mann sagte, und ein anderer Erwachsener war nicht dabei. Aber schließlich begriff sie, dass er gekommen war, um uns wegzubringen. Der Mann vom BIA sagte zu uns, er werde uns in ein Internat bringen, weil Großmutter sich nicht um uns kümmern konnte. Ich liebte meine Großmutter. Ich wusste, dass er Unrecht hatte.

Sie begann zu weinen und flehte ihn an, uns nicht mitzunehmen. Sie schrie, aber er sagte ihr, sie würde ins Gefängnis kommen, wenn sie sich zu widersetzen versuchte. Das war’s dann. Ich sagte nichts. Ich war neun Jahre alt, und ich hatte Angst, dass der Mann von der Behörde meine Großmutter mitnehmen und ins Gefängnis stecken würde, wenn ich versucht hätte, etwas zu sagen oder zu fliehen.

Also sah ich zu, wie Großmutter das bisschen Kleidung, das wir hatten, zusammenklaubte und zu einem kleinen Bündel verschnürte.

»Beschütze deine Schwestern. Lass nicht zu, dass ihnen irgend jemand etwas antut«, sagte Großmutter zu mir, bevor der Mann von der Behörde uns wegbrachte.

Ich gab ihr mein Wort. Aber ich brach fast in Tränen aus. An einem einzigen Tag hatte sich meine gesamte Welt verändert. Ich weiß, ich war damals nur ein kleines Kind, aber ich fühlte mich einfach so hilflos.

Vielleicht war jener Tag die erste Begegnung mit meinem Schicksal, das ich mir nicht ausgesucht hatte. Ich ahnte noch nicht, wie sehr mich diese Internatsjahre prägen würden. Zwar wurde ich von den Leuten in dieser Schule sehr schlecht behandelt, aber das machte mich stärker. Im Internat hatte ich keine Rechte, fand ich heraus. Ich denke, ich bin daher kaum überrascht, dass es mir heute, 77 Jahre alt und immer noch eingesperrt, nicht viel anders geht.

Der Mann von der Behörde fuhr uns zu einem Parkplatz an der Belcourt High School, wo eine lange Reihe von Schulbussen wartete. Familien verabschiedeten sich voneinander. Kinder und Eltern lagen sich weinend in den Armen.

Einige der traditionalistischen Indigenen sangen so, wie sie es tun, wenn jemand gestorben ist. Unheimliche Klänge für einen kleinen Jungen wie mich. Mir lief ein Schauer über den Rücken. Ich wäre fast durchgedreht.

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Betty und Cousine Pauline weinten, und ich konnte nichts tun oder sagen, damit sie aufhören. Ich dachte: »Ich muss stark bleiben und bereit sein zu kämpfen, falls jemand versucht, ihnen was anzutun.« Sie hielten sich allerdings so sehr an mir fest, dass ich mich kaum noch bewegen konnte. Die Szenen, die sich abspielten, als wir in die Busse einsteigen mussten, kann ich nur als Horror beschreiben. Ich erinnere mich, dass ich völlig verängstigt war.
Alle weinten, während wir immer wieder angeschrien wurden, endlich in die Busse einzusteigen. Die BIA-Beamten und die Indian Police schauten sich das an und bewachten uns. Sie sorgten dafür, dass niemand von uns abhauen und keiner der Indianer uns helfen konnte. Sie hatten keine Möglichkeit, plötzlich aufzutauchen und uns zurück nach Hause zu bringen.

Wir waren den ganzen Tag unterwegs. Betty und Pauline weinten die ganze Fahrt über. Sie baten nur ein einziges Mal um Wasser und darum, auf die Toilette gehen zu dürfen. Der Busfahrer sagte ihnen, sie sollten still sein und sich wieder hinsetzen. Ich sagte ihnen, ich müsse aufpassen, wohin wir fuhren. Falls es uns gelang abzuhauen, müssten wir wissen, wie wir wieder nach Hause kämen. Nach Hause kommen – ich konnte an nichts anderes denken als daran. Ich merkte dann aber schon bald, dass wir zu oft abbogen, als dass ich mir den Weg hätte merken können.

Schließlich kamen wir an einen Rastplatz. Es durften immer nur ein paar von uns aussteigen. Alle mussten so dringend aufs Klo, dass Betty und Pauline es kaum aushielten.

Als wir endlich in Wahpeton ankamen, trennten sie uns, und wir mussten uns in militärischer Formation aufstellen, vom Kleinsten bis zum Größten.

Die Mädchen wurden in den Mädchenschlafsaal geschickt, ein zweistöckiges Gebäude, und wir Jungen in das andere Gebäude. Der Speisesaal lag in der Mitte, die Schule auf der anderen Straßenseite. Für Kinder aus dem Reservat sah das höllisch gruselig aus. Und es war die Hölle.

Ich hörte Betty und Pauline weinen und schreien, dass ich sie nicht allein lassen solle. Ich war nahe daran zusammenzubrechen. Aber ich wusste, dass ich ihnen zeigen musste, dass ich stark und tapfer war. Ich habe nicht geweint. Hauptsächlich ihnen zuliebe.

Andere Kinder brachen tatsächlich zusammen. Es war der Beginn eines Alptraums, der mich auch mit 77 Jahren noch in manchen Nächten wach hält, weil ich Angst davor habe, dass alle Erinnerungen zurückkommen.

Die Oberinnen nutzten unsere Angst gegen uns aus. Sie schrien uns an: »Haltet den Mund … hört auf zu weinen … das bringt gar nichts!«

Einige von uns waren wütend, aber wir hatten auch Angst. Unsere Wut mussten wir flüstern. Die Oberinnen führten uns in den Keller, wo sich die Dusch- und Waschräume und der Raum zum Haareschneiden befanden. Zuerst schoren sie uns die Haare. Dann brachten sie uns zu den Duschen und zogen uns alle Kleider aus. Das war respektlos und erniedrigend. Voller Scham marschierten wir in die Duschen. Sie hatten sie auf HEISS gestellt. Sehr HEISS.

Einige der Kinder schrien auf, als das Wasser sie verbrühte. Niemand von uns wusste, wie man die Temperatur einstellt. Die älteren Kinder zeigten es uns. Einige Kinder wollten danach nie wieder in die Duschen gehen – sie taten es nur noch unter Zwang.

Nach dem Duschen versprühten die Oberinnen überall DDT (ein in der Landwirtschaft verwendetes Insektizid). Das Gift gelangte sogar in unsere Augen und Münder. Sie sagten, es würde Läuse und andere Insekten abtöten, die Krankheiten übertragen.

Dann setzten sich die Oberinnen mit einem großen Glas Vaseline auf eine Bank. Wir mussten uns nackt in einer Reihe aufstellen, und sie schmierten Vaseline auf unsere Knöchel, Arme und Ellenbogen. Dann nahmen sie ein Handtuch, wickelten es um ihre Hand und rieben die Vaseline wieder ab. Wenn sich dabei abgestorbene Haut ablöste, wurden wir mit einem dicken Stock geschlagen. Das tat verdammt weh. Dann wurden wir zurückgeschickt, um uns erneut zu waschen. Wir rieben uns die Haut wund, um keine Schläge mehr zu bekommen.

In der ersten Nacht kam eine junge indigene Schülerin und brachte mich in den Mädchenschlafsaal. Betty und Pauline klammerten sich immer noch aneinander und weinten. Ich wäre fast wieder zusammengebrochen. Irgendwie schaffte ich es, stark zu bleiben und die beiden zu trösten. Ich sagte ihnen, dass sie mich schlagen würden, wenn sie nicht aufhörten zu weinen, und das funktionierte.

Später wurden wir angewiesen, die kleineren Kinder zu waschen. Wenn nach dem Waschen bei ihnen abgestorbene Haut gefunden wurde, bekamen wir die Prügel. Die Oberinnen machten uns klar, dass sie uns von innen heraus für schmutzig hielten. Sie machten uns klar, dass sie uns hassten. Mit jedem Blick, mit jedem grausamen Wort setzten sie einen Krieg fort, den unsere Vorfahren führen mussten, seit die Vorfahren der Oberinnen 1492 hier gelandet waren.

Das Geräusch des Schlagstocks, mit dem die Jungen verprügelt wurden, und ihre Schmerzensschreie gehen mir immer noch unter die Haut, wenn ich im Fernsehen oder auf einem Foto sehe, wie jemand ein Kind schlägt.

Als ich älter wurde, zwangen die Oberinnen mich, die kleinen Kinder zu schrubben. Ein kleiner Junge namens Weiße Wolke hatte zarte Haut und weinte, also schrubbte ich ihn nicht so fest, wie sie es mir sagten. Sie fanden aber abgestorbene Haut bei ihm und schlugen mich. Ich musste ihn noch einmal schrubben, mit einer steifen Bürste, wie wir sie zum Schrubben des Fußbodens verwendeten, nur kleiner. Ich war wütend und schrubbte, bis er anfing zu bluten.

Wie kann ein Mensch mit diesen Erinnerungen leben?

Die Zeit verging, und ich lag jede Nacht in meinem Bett und hörte das Weinen und Wimmern der anderen Kinder. So viele Tränen und so viel Angst! Die größeren Kinder versuchten, die kleinen zu beruhigen, und sagten ihnen, dass die Oberin kommen und sie schlagen würde, wenn sie nicht aufhörten.

Einige der älteren Jungen sagten uns, dass sie uns Angst einjagen wollten, damit wir uns unterordnen, aber bei einigen von uns verwandelte sich der Schmerz in Hass, und das machte uns rebellisch.

Wir sprachen unsere Sprache. Wir sangen unsere Lieder. Und im Geheimen haben wir auch in unseren Sprachen gebetet. Wir nannten uns die »Resisters«, nach der berühmten französischen ­Résistance.

Ich glaube, ich habe meinen Hass und meine Wut mein ganzes Leben lang verborgen. Als Kind war es für mich unmöglich, damit klarzukommen. Aber ich habe gelernt, mit ihren Dämonen umzugehen. Das musste ich auch, denn ich war fest entschlossen, nie einer von denen zu werden. Ich habe mich nie größer gefühlt, wenn ich anderen wehgetan habe. Ich lebe das Erbe meiner Großmutter, nicht das, was mir in Wahpeton eingebleut wurde.

Im Keller gab es eine Gefängniszelle. In meinem letzten Jahr in Wahpeton wurde sie als Lagerraum genutzt. Ich sah sie, weil ich einmal einen kaputten Stuhl dorthin bringen musste. Ich überlegte, was Kinder wohl in der Vergangenheit in dieser Gefängniszelle durchgemacht haben mussten. Von anderen hörte ich, dass einige Kinder Selbstmord begangen hatten und irgendwo auf dem Gelände verscharrt worden waren. Wir wollten aber gar nicht wissen, wo sich dieser heilige Boden befand, also haben wir nie versucht, ihn zu finden. Ich gebe zu, ich hatte schreckliche Angst.

Was wäre wohl schlimmer – angeschrien und verprügelt zu werden oder dort begraben zu sein?

Einige von uns hörten nachts Phantomschreie. Von verlorenen Kindern, so schwer misshandelt, dass sie sich das Leben nahmen. Nicht alle von uns wollten daran glauben, die Schreie kämen von den weinenden Geistern dieser toten Kinder.

Irgendwann hörten wir, Eisenhower habe angeordnet, die Misshandlung von Indianerkindern einzustellen. Es dauerte ein paar Jahre, bis das Gesetz in Kraft trat. Für uns kam es sowieso zu spät – wenn es überhaupt jemals umgesetzt wurde. Das Heimpersonal war schließlich daran gewöhnt, den wehrlosen Kindern die Scheiße aus dem Leib zu prügeln.

Ich habe oft mit Dennis Banks und anderen Männern zusammengesessen und über unsere Zeit in Wahpeton gesprochen. Niemand fiel etwas Erfreuliches aus diesen Jahren ein. In unseren Erinnerungen waren diese prägenden Jahre, in denen wir so verletzlich waren, hart und brutal. Aber eines haben uns diese schrecklichen Orte gelehrt, an die ihr Weißen uns verschleppt habt: Wir sind Überlebenskünstler.

Und wir haben mit unversehrten Herzen überlebt.

Man darf Menschen nicht so schlecht behandeln. Ich kann als Mensch nur wachsen, wenn ich auch meinen Nächsten helfe zu wachsen. Trotz all der Schläge glaube ich immer noch fest daran. Es ist ein Gesetz, wie in der Physik, und es ist wahr. Man kommt nicht weiter, wenn man gemein zu anderen ist und ihre Gefühle missachtet, insbesondere die der Schwächsten. Ich bin beiden Arten von Menschen begegnet und von der üblen Sorte mehr als mir lieb war. Ich weiß, dass ich recht habe. Ich kann als Mensch nur wachsen, wenn ich auch meinen Nächsten helfe zu wachsen.

junge Welt 30.7.22