Athen Interview Nikos Maziotis (RK) in TO VIMA

Der Prozess gegen die Genossen und die Genossin des Revolutionären Kampfes in Griechenland konnte nicht innerhalb der Zeitspanne stattfinden, in der die Untersuchungshaft noch „untergebracht“ wäre und so mussten die politischen Gefangenen einstweilen entlassen werden! Tags darauf gab Nikos einem der grössten Tageszeitungen – TO VIMA – folgendes Interview:

Wie erklärt sich Ihre Freilassung vor dem Hintergrund der griechischen Verfassung?
Die Tatsache, dass die 18 Monate Untersuchungshaft ohne einen Prozessbeginn abgelaufen sind, ist der grossen Anstrengung von Polizei, UntersuchunPodcasts der Aprilsendung von „Wieviel sind hinter Gittern“ gsrichter und des Staates im Allgemeinen geschuldet, Beweise zu sammeln, mit denen man jedem von uns die direkte Beteiligung an den Aktionen der Organisation nachweisen wollte. Unsere Verfolger wissen es genau: die Übernahme der politischen Verantwortung durch uns heisst nicht, dass sie uns eine konkrete, physische Beteiligung an den durchgeführten Aktionen anhängen können. Während sie keinen Beweise fanden, sind die 18 Monate abgelaufen: Das ist alles.

Sie sind schon vorher verurteilt und dann freigelassen worden. Was ist Ihre Meinung über die griechische Justiz?
Ich verbrachte drei Jahre im Gefängnis für den Sprengstoffanschlag auf das Entwicklungsministerium 1997, eine Solidaritätsaktion der Einwohner des Dorfes Strymonikos gegen die Eröffnung einer Goldmine durch die multinationale Gesellschaft „TVX Gold“. Seit ich mir meiner anarchistischen Perspektive bewusst geworden bin, vertrete ich die Meinung, dass das, was sich „Griechische Justiz“ nennt, ein System ist, welches das bestehende ökonomisch- politische System schützt; dieses kriminelle System, das sich kapitalistisches System, Marktwirtschaft und repräsentative Demokratie nennt.
Diese Justiz ist zutiefst eine Klassenjustiz. Ihr Ziel ist es, den Mächtigen aus Ökonomie und Politik zu dienen und sie zu schützen. Die grosse Mehrheit der Gefangenen kommt aus bescheidenen Verhältnissen; es ist Heuchelei, von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn die grössten Diebe und Verbrecher die Mitglieder der politischen und ökonomischen Elite sind, welche das Volk und die Armen ausplündern, insbesondere unter den gegenwärtigen, vom Memorandum der Troika verhängten Bedingungen. Es ist Heuchelei, von Gerechtigkeit zu sprechen, wenn alle Angeklagten im Zusammenhang mit öffentlich gemachten Skandalen wie die Affären Valpredi, Siemens und der strukturierten Finanzprodukte immer noch unbestraft bleiben; wenn einer der Mörder von Alexandros Grigoropoulos schon auf freiem Fuss ist.

Während langer Zeit haben Sie mit den Behörden ein Versteckspiel gemacht. Könnte sich die Hypothese, die Sie aufstellen, wonach Ihre Organisation spektakuläre Aktionen wie den Raketenagriff auf die Botschaft der USA machte, während Sie unter Überwachung standen, nicht als unwahrscheinlich erweisen? Und akzeptieren Sie den Titel des Chefs, der Ihnen zugeschrieben wird?
Die Organisation war niemals überwacht. Ich und meine Genossin, Pola Roupa, waren als Verdächtige überwacht, aber es kamen nie Beweise ans Licht, weder gegen uns noch gegen die Organisation. Den mir zugeschriebenen Titel des Chefs anerkenne ich selbstredend nicht, und zwar nicht nur auf der Ebene der Strafuntersuchung, wo er verschärfend wirkt, sondern auch, weil ich Anarchist und daher gegen jede Form von Hierarchie bin. Es ist ein Widerspruch, die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft ohne DirigentInnen vorzuschlagen und gleichzeitig in der Organisation „Revolutionärer Kampf“ dieses herrschende soziale und politische Modell, gegen das wir kämpfen, zu übernehmen. Diese Anklage kommt von der Wahrnehmung des Regimes, für das es keine soziale und politische Organisation jenseits des hierarchischen Modells geben kann.

Damals wurde gesagt, es gäbe ein Video des Angriffs auf die Botschaft der USA. Denken Sie, dass das stimmt?
Wenn es ein verwertbares Video gäbe, wären die Mitglieder der für diesen Angriff von 2007 auf die Botschaft verantwortlichen Organisation schon verhaftet worden. Ferner ist wohlbekannt, dass die Organisation nie das geringste nützliche Indiz über die Orte der Aktionen hinterlassen hat.

Ist das Problem des Terrorismus, wie sich das nennt (ein Begriff, den Sie nicht akzeptieren), in unserem Land beendet? Oder denken Sie, dass es weiterhin existieren wird?
Die Frage der revolutionären bewaffneten Aktion, um korrekt zu sprechen, ist nicht zu Ende und wird nie zu Ende sein. Sie ist historisch notwendig und aktuell, besonders unter den Bedingungen des gegenwärtigen Totalitarismus, den die PASOK-Regierung in Zusammenarbeit mit der Troika zugunsten der Gläubiger des Landes verhängt hat. In der Tat ist die Debatte um die Existenz und die Notwendigkeit der revolutionären bewaffneten Aktion eine Debatte über die Notwendigkeit der sozialen Revolution.

Sie anerkennen Ihre Teilnahme an Aktionen und Organisationen immer. Was ist der Sinn dieser Ihrer Haltung?
Den Kampf gegen den Feind, der Entscheid für die politische Aktion (in unserem Fall die revolutionäre bewaffnete Aktion) ist ein Muss für jeden Revolutionär. Darin liegt die grosse Bedeutung der Übernahme der politischen Verantwortung. Ich denke, dass man mit einer solchen Haltung wirksamer gegen die herrschende Propaganda kämpfen kann, welche die Revolutionäre und die politischen Feinde des Systems als Kriminelle und Terroristen präsentiert. Während der deutschen Besetzung bezichtigte das monarchistisch-faschistische Regime beispielsweise die Militanten und Partisanen der ELAS (nationale Volksbefreiungsarmee) und der DES (demokratische Armee Griechenlands) des Banditentums.

Fragen Sie sich nie, ob Ihr Kampf gegen das System Sie dazu berechtigt, menschliches Leben zu riskieren oder gar zu eliminieren?
Die Gruppe „Revolutionärer Kampf“ ist eine revolutionäre bewaffnete Organisation, die für die Überwindung des Kapitalismus und des Staates kämpft mit dem Ziel, dass das Volk sein eigenes Leben in die eigenen Hände nehmen kann. Wir kämpfen gegen das Regime und gegen alle, die es bilden und verteidigen. Wir haben das Leben gewöhnlicher Bürger, die nichts mit dem System der Macht und der Repression zu tun haben, nie aufs Spiel gesetzt. Die Aktionen gegen materielle Strukturen des Systems (z.B. gegen Ministerien, Banken, die Börse) werden mit allen Vorsichtsmassnahmen ausgeführt, um das Leben der Bürger nicht anzutasten. Aber im sozialen und Klassenkrieg ist die Gewalt unvermeidlich, sowohl von Seiten der Herrschenden als auch von Seiten des aufständischen Volkes und der Revolutionäre. Denn keine authentische soziale Revolution fand je statt und wird je ohne Gewalt stattfinden. In diesem Kontext sind die Angriffe kein Verbrechen, wenn sie gegen den kriminellen Bandenchef Voulgarakis, der für Misshandlungen, Geiselnahmen, Terrorismus und Bereicherung durch widerrechtliche Aneignung von öffentlichem Grund (wie im Fall des Klosters von Vatopredi) geführt werden und den das Volk am liebsten auf dem Syntagma-Platz aufgehängt gesehen hätte, oder gegen die mörderischen Schergen des MAT, welche das Volk während Demonstrationen und Streiks massakrieren.
Es ist eine Heuchelei, uns als Terroristen und öffentliche Bedrohung ohne Unterscheidung der Personen anzuklagen, gerade wenn das System, das uns anklagt, täglich Dutzende von Personen dadurch tötet, dass es sie durch die Austeritätspläne des Memorandums zu Elend und Hunger verurteilt; gerade wenn es Leben und Gesundheit der Bürger durch die Kürzungen und Schliessungen von Spitälern gefährdet; wenn ganze Klassen von Bürgern durch Arbeitslosigkeit eliminiert werden und die Bosse mittels Arbeitsunfällen das System von überschüssigen Arbeitskräften „befreien“; wenn heute, angesichts der Verschärfung des sozialen Krieges, Tötungen durch die Schergen immer mehr zum gewöhnlichen Instrument der Durchsetzung der Macht des Regimes und der Ordnung werden; wenn der Ausweg aus der ökonomischen Krise des Systems, der von seinen Eliten gesucht wird, die soziale Sterbehilfe breiter Volksschichten voraussetzt.

Über welche Aktionen könnten Sie die Meinung ändern? Könnten Sie etwas bereuen? Haben Sie jemandem Schaden zugefügt?
Selbstverständlich bereue ich nichts. Meine einzigen Gedanken und Positionen sind die, welche die Organisation in ihren Erklärungen festgehalten hat. Wenn es einen Fehler gab, war er technischer Natur und verhinderte die Explosion beim griechischen Sitz der Citibank, ein Einfallstor des internationalen Finanzsystems und deshalb ein zentraler Akteur der Systemkrise. Überdies haben wir uns schon beim griechischen Volk für diesen Fehler entschuldigt.

Kann es sein, dass die Aktionen der Organisation das System zur Übernahme konservativerer Methoden geführt hat?
Die Sichtweise, nach der die bewaffnet revolutionäre Aktion für die Verschärfung der Repression gegen soziale und politische Bewegungen verantwortlich sei, ist eine typische Theorie der reformistischen Linken, um die Radikalisierung der Kämpfe zu verhindern und sie in die Grenzen der Legalität des Systems zu zwingen. Um die Wahrheit zu sagen, ist das speziell heute nicht der Fall; vielmehr hat das Fehlen einer starken revolutionären Bewegung die Brutalität des Systems ermutigt. Es versteht sich von selbst, dass die einzige Methode, bestimmte Massnahmen durchzusetzen, das Unterdrücken der Kämpfe und Widerstände ist, eine Repression, die in unseren Tagen kriegerische Formen annimmt. ES ist ein von all denen erlebter Krieg, die an Demonstrationen und Mobilisierungen teilnehmen, welche immer mit tödlichen Angriffen der Schergen gegen die Demonstrierenden enden. Der Fall des Polizeiattentats auf das Leben des Demonstranten Jannis Kafkas am 11. Mai 2011 zeigt auf, dass der Staat bis zum Töten entschlossen ist, die herrschende Ordnung durchzusetzen und den Gang Richtung sozialer Aufstand zu stoppen. Die Sichtweise, nach der die bewaffnete Aktion die Repression verschärft, ist heute speziell nicht angesagt, da immer mehr Personen die Notwendigkeit des bewaffneten sozialen Aufstandes verstehen.

Ich wollte Sie immer über den tragischen Tod des Ausländers in Patissia befragen. Was ist tatsächlich geschehen?
Man kann nicht wissen, was in Patissia geschehen ist. Hingegen wissen wir, wie weit dieses tragische Ereignis auf absolut schändliche Art vom Innenministerium instrumentalisiert wurde, um uns als Militante zu vernichten, um den politischen und sozialen Charakter der Organisation „Revolutionärer Kampf“ zu vernichten und um die herrschende Wahrnehmung zu verstärken, sie sei eine Gruppe von Kriminellen und Terroristen. Unglücklicherweise wurde diese Operation der Diffamierung und Vernichtung von den Medien vor allem während der ersten Tage nach unserer Verhaftung und unserer kompletten Isolierung verbreitet, als es uns unmöglich gemacht wurde, dieser Farce von gegen uns gerichteten „Beweisen“ zu widersprechen; die Medien verwandelten sich in Sprachrohre von Chrysochoidis, dem damaligen Innenminister.
Ich zitiere diesbezüglich ein vom Innenminister erfundenes Telefongespräch, während dem einige von uns den tragischen Tod des Afghanen und die Verletzungen der kleinen Schwester anscheinend in absolut vulgärer Art kommentiert hätten. Das Gespräch wurde von den Medien ohne Skrupel verbreitet. Und nachdem unsere Verfolger Tage darauf die Falschheit einer solchen Konversation zugegeben hatten, behaupteten einige Medien weiterhin, dass wir wahrscheinlich die Urheber dieses tragischen Ereignisses waren. Ich glaube, diese Position der Mehrheit der von der Version des Innenministeriums vollkommen unterjochten herrschenden Massenmedien sei ein offenkundiges Beispiel Goebbels’scher Propaganda.

Ist auf Sie nie ein Kopfgeld gesetzt worden?
Auf mich persönlich nicht. Aber auf unsere Organisation schon, seitens der amerikanischen Regierung (mit einer Summe von einer Million Dollar) und seitens der griechischen Regierung (mit einer Summe von 800’000 Euro) wegen des Raketenangriffs auf die US-Botschaft 2007. Dieses Kopfgeld wurde von den Zeitungen genau ein Jahr danach reproduziert und veröffentlicht.
Ihre persönliche Situation kann angesichts Ihres militanten Profils überraschen. Sie sind Vater geworden und Ihre Lebensgefährtin hat im Gefängnis ein Kind geboren. Wie sehen Sie Ihre Zukunft?
Wir haben bis jetzt nicht über meine persönlichen Fragen gesprochen. Da Sie mich aber fragen, ist hier meine Position: Die Tatsache, Vater zu sein, steht nicht im Widerspruch zu meiner Beteiligung an einer bewaffneten revolutionären Organisation. Im Übrigen kämpft man vor allem, um unseren Kindern eine bessere Welt zu hinterlassen und um ihnen nie gestehen zu müssen, man habe keinen Widerstand geleistet, man haben gegen die herrschende Ungerechtigkeit unserer Tage nichts gemacht. Und wenn wir heute nicht kämpfen, um die gegenwärtige Junta von Staat und Kapital zu stürzen, werden die kommenden Generationen die dunkelste und barbarischste Zeit der menschlichen Geschichte erleben. Wir schulden also den Kampf für die soziale Revolution vor allem unseren Kindern.

Was denken sie über die Bewegung der „Empörten“ und die Parole „Verbrennen wir dieses Bordell, das Parlament“?
Die Bewegung der „Empörten“ ist eine vielfältige und mehrdimensionale politische und soziale Bewegung, welche die Wut der Mehrheit der Gesellschaft gegen das ökonomische und politische System zum Ausdruck bringt. Wegen der Wirtschaftskrise stellt die Gesellschaft im allgemeinen immer mehr die Marktwirtschaft und die repräsentative Demokratie in Frage, und deshalb kommt eine totale Wut und Opposition gegen alle politischen Parteien und gegen den Parlamentarismus zum Ausdruck, die übrigens vom System selbst reduziert werden, weil das Parlament unter den gegenwärtigen, von der Troika diktierten totalitären Bedingungen nichts anderes tut, als deren Weisungen zu bestätigen. Aus diesem Grund entspricht die seit 30 Jahren existierende anarchistische Parole dem Willen der gesellschaftlichen Mehrheit. Die zentrale Parole der „Empörten“ beruft sich auf unmittelbare Demokratie. Sie widerspiegelt einerseits die Gegnerschaft des Volkes gegen das perverse System der repräsentativen Demokratie, in dem die Politiker in Abwesenheit des Volkes entscheiden, und andererseits den Wunsch des Volkes, selbst über sein eigenes Leben zu entscheiden. Was zu tun bleibt, ist, dass diese vielfältige und mehrdimensionale Strömung zu einer politischen Kraft des Umsturzes wird.