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Der staatliche Rettungsschirm für die neonazistische Mordserie der „NSU“ – Eine Zwischenbilanz

Vor über drei Monaten erfuhren wir, dass die zwei toten Männer im Campingwagen nicht nur routinierte Bankräuber, sondern vor allem Mitglieder einer neonazistischen Terrorgruppe namens ›NSU‹ gewesen sein sollen, von deren Existenz keine staatliche Stelle etwas gewusst haben will. Herrschte über ein Jahrzehnt Ahnungslosigkeit, so wurden wir in der Folgezeit mit einer Flut von Details, Erkenntnissen, Hintergründen und Zusammenhängen konfrontiert, die uns an dem aufgestauten Wissen der Verfolgungsbehörden teilnehmen ließen und lassen. Zeit, eine Zwischenbilanz zu ziehen.

Die offizielle Version über die neonazistische Mordserie ist schnell erzählt: Die Mordserie wurde über zehn Jahre einem kriminellen, ausländischen Milieu zugeordnet, weil es andere ›Hinweise‹ und ›Spuren‹ nicht gab. Die Verfolgungsorgane hatten jede Spur zu den 1998 abgetauchten Mitgliedern der neofaschistischen Kameradschaft ›Thüringer Heimatschutz‹ verloren. Auf die Existenz der neonazistischen Terrorgruppe ›NSU‹ musste das vermeintlich einzig überlebende Mitglied, Beate Zschäpe, mit der Verschickung eines Videos, selbst aufmerksam machen. Die Spuren, die zu der neonazistischen Terrorgruppe ›NSU‹ geführt hätten, seien aufgrund von Pannen, Koordinierungsproblemen und Informationsdefiziten ›verloren‹ gegangen.

Wer kann im Darkroom (was) sehen?
Sich auf das Terrain von Geheimdiensten und Verfolgungsorganen zu begeben, heißt immer, sich in verdunkelten Räumen zurechtzufinden. Das hat nichts mit obskuren Bedürfnissen zu tun, sondern mit dem Gegenstand der Untersuchung. Sowohl Geheimdienste als auch Verfolgungsorgane nehmen für sich in Anspruch, nicht alles preiszugeben, schon gar nicht, ihr Tun vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Als Begründung dienen ›übergeordnete Staatsinteressen‹, zu deren Schutz tatsächliches Wissen und Tun der Geheimhaltung unterliegen. Einer unter diesen Bedingungen abgegebenen offiziellen Version zu widersprechen, ist folglich schnell dem Vorwurf ausgesetzt, man könne nur im Trüben fischen. Schließlich könne man in einem beweisfreien Raum keinen Gegenbeweis führen.

Diese Schwierigkeit, die nicht die KritikerInnen, sondern die Herren beweisfreier Räume zu verantworten haben, wird schnell und gedankenlos den KritikerInnen selbst angelastet. Genauso schnell wird jede andere Version als die Offizielle als Verschwörungstheorie gebrandmarkt, ganz vehement und laut von jenen, die diesen beweisfreien Raum angelegt haben. Auch unter linken, staatskritischen Gruppierungen genießen Verschwörungstheorien keinen guten Ruf. Lassen wir alle gängigen Verallgemeinerungen einmal beiseite, gib es tatsächlich auch innerhalb der Linken Erklärungen, die dem bösen Ruf von Verschwörungstheorien durchaus gerecht werden.

Es geht um Erklärungsversuche, die bei besonders schweren Staatsverbrechen so etwas wie eine geheime Kommandozentrale ausmachen, die hinter dem Rücken politisch Gewählter die wirklichen Fäden der Macht in der Hand halten. Ich möchte diesen Erklärungen widersprechen. Ich bin kein Freund davon. Wenn ich im Folgenden der offiziellen Version über die Mordserie der ›NSU‹ widerspreche, dann vermute ich hinter der möglicherweise ganz anderen Version keine geheimnisvollen Mächte. Meine Befürchtungen sind ganz andere: Die Möglichkeit, die Wahrscheinlichkeit, dass das, was bis heute der Geheimhaltung unterliegt, nicht außerhalb bestehender Institutionen, sondern im Schutz bestehender Institutionen passiert ist.

Wie will, wie kann man also einer Darstellung widersprechen, deren Details der ›Geheimhaltung‹ unterliegen? Wie will man ein Ereignis beurteilen, dessen Bewertung im Geheimen stattfindet und im Geheimen verbleibt, also außerhalb des Rechtsinstituts der belastbaren Überprüfbarkeit? Mir sind diese Probleme in hohem Maße bewusst. Wenn ich der offiziellen Version widerspreche, dann nicht aus dem Grund, dass ich es besser weiß. Aus diesem Grunde beziehe ich mich ausschließlich auf Fakten, die preisgegeben wurden – die bisher unwidersprochen blieben. Jeder Widerspruch zur offiziellen Version lebt mit dem Problem, dass jede andere Erklärung nur mit den Fakten agieren kann, die an die Öffentlichkeit gelangt sind. Wir sind also auf das angewiesen, was jene, die zehn Jahre nichts gewusst haben wollen, nun preisgeben.

Es ist also keinesfalls eine böswillige Behauptung, wenn man festhält, dass die Fakten, die an die Öffentlichkeit dringen, gefiltert sind, dass sie unter dem Vorbehalt zu werten sind, dass es sich um selektive Wahrheiten handelt, um eine Wahrheit, die nicht übergeordnete Staatsinteressen gefährdet. Das gilt selbst für Untersuchungsausschüsse, die immer wieder damit konfrontiert sind, dass Akten ›unter Verschluss‹ gehalten werden, dass geladene Zeugen nur ‚›beschränkte Aussageerlaubnisse‹ von Ihren Dienststellen erhalten oder nicht ›ladungsfähig‹ sind. Aufgrund dieses selektiven Zugangs zu sogenannten Ermittlungsergebnissen kann eine Kritik nur so vorgehen: Ähnlich einem Gutachter legt man sich alle vorhandenen Fakten ›aus dritter Hand‹ auf den Tisch und ordnet sie verschiedenen Erklärungen zu. Welche Fakten machen die offizielle Version plausibel, welche Fakten stützen eine andere Erklärung.

Es kann also nicht Aufgabe einer Kritik sein, zu beweisen, wie es wirklich war. Es kann nur darum gehen, ganz nüchtern darüber zu befinden, was angesichts der vorliegenden Fakten genauso wahrscheinlich ist. Dann, so mein Fazit der Recherche, wird man zu dem Schluss kommen, dass aufgrund der vorliegenden Fakten jede andere Version wahrscheinlicher ist, als die offizielle. Dass ein anderer Ablauf der mörderischer Ereignisse wahrscheinlich, wenn nicht gar naheliegender ist, beantwortet nicht die viel schwerwiegendere Frage: Wenn es ›ganz anders‹ war … welche politischen Motive, welche staatlichen Interessen stecken dahinter, über zehn Jahre eine neofaschistische Terrorgruppe zu schützen? Diese Frage beantworte ich ausdrücklich nicht und halte genau an dieser Stelle inne. Ich kann weder in die Köpfe von Planungsstäben blicken, noch haben wir V-Leute in staatlichen Stellen sitzen, die über das berichten, was der Geheimhaltung unterliegt.

Wir können nicht in die Zukunft schauen, sehr wohl in die Vergangenheit. Was vor 20 Jahren Verschwörungstheorie war, ist heute eine unbestrittene Tatsache Erfahrungsgemäß kann man auf die hier aufgeworfenen Fragen in zehn, zwanzig Jahren eine beweiskräftigere Antwort geben, wenn Dokumente freigegeben werden, die heute niemand einsehen oder einfordern kann. Also ›unter Verschluss‹ gehaltene Dokumente, die hier nicht Gegenstand sein können. Dass etwas, was auch vor 30 Jahren für blanke Verschwörungstheorie gehalten wurde, tatsächlich so stattfand, möchte ich kurz an einem zurückliegenden Fall erklären.

Als es in den 70er und 80er Jahren immer wieder zu neofaschistischen Mord- und Bombenanschlägen in Europa kam (Bombenanschlag in Bologna am 2. August 1982/Anschlag auf das Oktoberfest in München am 26. September 1980), kam der Verdacht auf, dass viele dieser neofaschistischen Anschläge im Schutz staatlicher Stellen und Dienste begangen wurden. Hinweise, die bereits damals diese Mutmaßung stützten, wurden jedes Mal von staatlicher Seite als bösartige Verleumdungen und aberwitzige Unterstellungen zurückgewiesen. Es dauerte über 20 Jahre, bis Licht in diese verdunkelten Zusammenhänge drang. Dr. Daniele Ganser, Historiker und Friedensforscher an der Universität Basel, hatte das Glück, in Akten Einsicht zu nehmen, die in der Schweiz freigegeben wurden.

Er wertete sie aus und kam zu dem Schluss, dass die NATO eine Stand-behind-Armee aus neofaschistischen Gruppen aufgestellt hatte, um diese im Zweifelsfall als faschistische ›Reserve‹ einzusetzen. Im Schutz dieses ›Gladio-Programmes‹ wurden zahlreiche Bombenanschläge ausgeführt, um so das Eingreifen des Staates zu provozieren (›Strategie der Spannung‹) bzw. zu rechtfertigen – und wenn nötig, einen Putsch zu legitimieren. gab das Außenministerium der USA als Reaktion auf die Veröffentlichung der Forschungsergebnisse der ETH Zürich eine umfangreiche Pressemitteilung heraus. Darin wurde die Existenz der Geheimarmeen sowie die zentrale Rolle der NATO und die Beteiligung der CIA indirekt bestätigt. (Daniele Ganser: NATO’s Secret Armies: Operation Gladio and Terrorism in Western Europe: An Approach to NATO’s Secret Stay-Behind Armies. Cass, London 2005, ISBN 3-8000-3277-5, S. 25)

Die NSU befand sich nicht im Untergrund, sondern in Obhut staatlicher Organe.
Bis heute wird die Legende von allen Verfolgungsbehörden gepflegt, die ›NSU‹ sei seit 1998 unauffindbar abgetaucht. Diese Lüge erneuerte sogar die Bundesanwaltschaft, die angeblich damit betraut ist, die Verbrechen der NSU aufzuklären: »Die Bundesanwaltschaft in Karlsruhe und das Bundeskriminalamt (BKA) sind inzwischen davon überzeugt, dass die mutmaßlichen NSU-Terroristen bereits mit ihrem Verschwinden Anfang 1998 ›perfekt abgetaucht‹ sind und sich sofort ›hochkonspirativ verhalten‹ haben.« (Welt-Online vom 30.1.2012)

Diese Stellungnahme klärt keine Verbrechen auf, sondern verwischt absichtsvoll und vorsätzlich Spuren, die genau das Gegenteil belegen. In der Geschichte der BRD gibt es nicht viele Untergrund-Gruppen, zu denen Geheimdienste (wie der VS und der MAD) aufgrund unterschiedlicher nachrichtendienstlichen Quellen so viele Kontakte pflegten wie zur neonazistischen Terrorgruppe ›NSU‹.

»Laut Bundesamt für Verfassungsschutz soll (der kürzlich verhaftete Carsten S.) dem damaligen THS-Führer THS/Thüringer Heimatschutz, eine neonazistische Kameradschaft, aus der die ›NSU‹ hervorgegangen ist. und V-Mann des thüringischen Verfassungsschutzes, Tino Brandt, am 13. März 1999 mitgeteilt haben, dass er nun den Kontakt zu Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe halte. S. soll Geld für die drei 1998 Abgetauchten organisiert und es ihnen zugespielt haben.« (FR vom 2.2.2012) Sieht so etwa ein ›perfektes Abtauchen‹ aus? Ein weiteres Indiz: Die Kontakte des Verfassungsschutzes zu den NSU-Mitgliedern waren so nahe, dass dieser über einen V-Mann selbst über die Pläne einer möglichen Flucht nach Südafrika bestens informiert war: »›Während Böhnhardt und Mundlos mit dem Ziel einverstanden seien und dies auch als Daueraufenthaltsort anstrebten, beabsichtige Zschäpe, die nicht ins Ausland wolle, sich nach der Abreise der beiden den Behörden zu stellen‹, zitiert die Zeitung (Die Welt) aus der ihr vorliegenden Dokumentation.« (FAZ vom 30.1.2012)

Sieht so ein ›hochkonspiratives Verhalten‹ aus? Die Verfolgungsbehörden waren also nicht nur über interne Diskussionen auf dem Laufenden, sie wussten auch ganz genau, wo die NSU-Mitglieder ›abgetaucht‹ waren und was sie vorhatten: »Der Verfassungsschutz war wesentlich besser über die Aktivitäten von Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Untergrund informiert als bislang bekannt. So hatten die Beamten schon im Frühjahr 1999 verlässliche Hinweise, dass sich das Trio in Chemnitz versteckt hielt. Sie wussten auch, dass es bewaffnete Überfälle plante. Das räumt das Bundesamt für Verfassungsschutz in einem amtlich geheimgehaltenen Untersuchungsbericht ein, der dem SPIEGEL vorliegt.« (DER SPIEGEL vom 31.12.2011)

Angesichts dieser Fakten ist die Behauptung der Bundesanwaltschaft und des BKA, die Mitglieder der ›NSU‹ seien ›perfekt abgetaucht‹ nicht nur aberwitzig. Es handelt sich hier gleichermaßen um eine offensichtliche Irreführung und um Strafvereitelung im Amt.

Und eine weitere Irreführung im Amt lässt sich damit belegen: Auf die Frage: Hatten die mutmaßlichen Neonazi-Terroristen der NSU etwa Verbindungen zum Thüringer Verfassungsschutz? antwortete der amtierende Generalbundesanwalt Rainer Griesbaum in einem Interview mit der Zeitung ›Badische Neueste Nachrichten‹ wie folgt: »Uns liegen keine Anhaltspunkte vor, die diese Behauptung stützen könnten.« (Berliner Kurier vom 16.11.2011) Wenn der Verfassungsschutz so etwas wie der vierte Mann des neonazistischen ›Trios‹ war, dann kann man die Bundesanwaltschaft als fünften Mann eines Ermittlungsverfahrens bezeichnen, das die herausragende Rolle von V-Männern rund um die ›NSU‹ nicht aufdeckt, sondern zu leugnen versucht.

Nicht die angeblichen Pannen und Versäumnisse der Verfolgungsbehörden haben Festnahmen verhindert, sondern die koordinierende Hand des Innenministeriums in Thüringen. Es gehört schon viel Unverfrorenheit dazu, zu behaupten, dass Pannen und sonstiger Unbill die Festnahme der NSU-Mitglieder verhindert haben. Genau das Gegenteil war der Fall: Über zehn Jahre wurde alles unterdrückt und unterschlagen, was den Verdacht erhärtet hätte, dass es Festnahmemöglichkeiten gab, dass man Kontakt zu den ›Untergetauchten‹ pflegte, dass es zu massiven Konflikten zwischen Polizei- und Verfassungsschutzbehörden kam. Wer all dies nach außen abschotten kann, wer über ein Jahrzehnt verhindern kann, dass inkriminierende Details an die Öffentlichkeit gelangen, der agiert nicht kopflos, sondern hochkonspirativ.

Unter Berufung auf das Thüringer Landeskriminalamt berichtete der Mitteldeutsche Rundfunk (MDR), »dass die drei Hauptverdächtigen 1998 kurz nach ihrem Untertauchen von Zielfahndern aufgespürt worden waren. Ein Sondereinsatzkommando der Polizei habe die Möglichkeit zum Zugriff gehabt, sei aber im letzten Moment zurückgepfiffen worden.« jW vom 19.11.2011 Wer kann die Polizei an einem möglichen Zugriff hindern, außer der oberste Dienstherr aller Verfolgungsbehörden, der zuständige Innenminister in Thüringen? Dass genau dort Festnahmemöglichkeiten fortgesetzt unterbunden wurden, ist folgender Pressemitteilung zu entnehmen: »Vergangene Woche war in einer vertraulichen Sitzung des Thüringer Justizausschusses bekannt geworden, dass ein halbes Dutzend Aktennotizen aus der Zeit zwischen 2000 und 2002 existieren, laut denen das Innenministerium Festnahmeversuche verhindert hatte.

Dieses Vorgehen führte seinerzeit zu Krisengesprächen zwischen den Staatssekretären der Landesministerien für Justiz und Inneres sowie zwischen dem Thüringer Generalstaatsanwalt und dem LfV-Präsidenten. Große Folgen hatte das jedoch nicht: Im Jahr 2003 wurde das Ermittlungsverfahren gegen das gesuchte Trio eingestellt – und damit auch die Fahndung beendet.« (FR vom 8.12.2011) Wenn das Innenministerium in einer Zeitspanne von über zwölf Jahre kontinuierlich polizeiliches Vorgehen verhinderte, wenn mögliche Festnahmen ›abgeblasen‹ wurden, dann handelt sich folglich nicht um Pannen, sondern um geplante, immer wieder abgestimmte Entscheidungsprozesse.

Der Rettungsschirm für neonazistischen Terror liegt im Innenministerium Thüringens.
Die Aufklärung der Neonazimorde dient vor allem dem Schutz der darin involvierten Verfolgungsorgane. Thüringens Ministerpräsidentin Christine Lieberknecht (CDU) hat in ihrer Regierungserklärung und bei jeder anderen Gelegenheit auch versprochen, die Aufklärung der grausamen Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) mit Nachdruck und ohne Ansehen der Person voranzutreiben. Mit Blick auf den eingerichteten Untersuchungsausschuss ließ Frau Lieberknecht die im Dunklen Gelassenen wissen: „Es muss alles ans Licht. Die Aufklärung wird noch eine Weile brauchen und wird weitere Helfer und Helfershelfer ergeben. Das ist noch nicht zu Ende.“ (FR vom 16.2.2012) Die Bundesanwaltschaft verspricht ähnliches. Ab und an fliegt ein GSG-9-Hubschrauber durchs Bild und illustriert knallharte Fahndungserfolge.

Das alles hört sich wie eine automatische Ansage in der Endlosschleife an. Wie in Wirklichkeit daran gearbeitet wird, dass das, was im Dunklen ist, im Dunklen bleibt, dass niemand auch nur in die Nähe eines Lichtschalters kommt, belegt ein Beispiel, das zeitgleich an die Öffentlichkeit drang. Unter der Überschrift ›Im Fall der mutmaßlichen Zwickauer Terrorgruppe NSU wachsen die Zweifel am Aufklärungswillen der Sicherheitsbehörden. Das BKA lässt Ermittlungsdaten löschen, die den wohl wichtigsten mutmaßlichen NSU-Unterstützer André E. betreffen.‹ berichtete die FR vom 13.2.2012 von einer ganz speziellen Art der Aufklärung: »Am 15. November vergangenen Jahres war das sächsische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) vom BKA nach seinen Erkenntnissen über Rechtsextremisten befragt worden, deren Namen von den seit 1998 im Untergrund lebenden mutmaßlichen NSU-Mitgliedern Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt als Alias-Identitäten verwandt worden waren. Dabei ging es auch um den als Rechtsextremist einschlägig bekannten André E., der neben seiner Frau Susanne als wichtigste Bezugsperson des Trios gilt.

Die in Zwickau lebenden E.s waren regelmäßig zu Besuch bei dem Trio und stellten ihnen Bahncards mit ihren Namen zur Verfügung. In seinem Antwortschreiben an das BKA (…) teilte Sachsens LfV-Präsident Reinhard Boos vor drei Monaten jedoch mit, dass E. im Informationssystem seines Amtes lediglich als Teilnehmer eines rechtsextremen Konzertes im Mai 2011 in Mecklenburg auftauche. Mehr Angaben zu ihm habe man nicht.« Diese Aussage erteilte der Verfassungsschutz, obwohl dieser ›Namenlose‹ aufgrund seiner ausgezeichneten Kontakte zur Neonazi-Szene als V-Mann angeworben werden sollte. Ein Neonazi, der der »2000/2001 existierenden Gruppe ›Weiße Bruderschaft Erzgebirge‹ (WBE) angehörte, die den Kern der NSU-Unterstützerszene bildete«. (FR vom 13.2.2012) Warum banalisiert der Verfassungsschutz sein Wissen, ein Wissen, das er Wochen später einräumt? Nur zehn Tage später, am 24. November 2011 wird André E. als einer der engsten ›Kameraden‹ der NSU-Mitglieder verhaftet. Dabei wurde auch sein Handy beschlagnahmt.

Ein herausragendes Beweismittel, denn es war der ›namenlose‹ André E., der »Zschäpe am 4. November 2011 anrief, nachdem sie ihre Wohnung in der Zwickauer Frühlingsstraße in Brand gesetzt hatte und flüchtete. Die Auswertung von E.s Handy könnte daher Hinweise darauf bringen, wen der Zschäpe-Freund danach angerufen hat. War darunter möglicherweise ein Informant der Sicherheitsbehörden?« Eine gute Frage, für die es offensichtlich keine Antwort geben darf. So wurden lt. BILD die Verbindungsdaten, die sich auf dem Handy befanden, auf Anweisung des BKA’s gelöscht. Einen eindeutigeren Beleg dafür, dass koordiniert Spuren vernichtet werden sollen, die das enge Zusammenwirken von V-Männern und ›NSU‹ belegen könnten, gibt es wohl kaum.

Nimmt man alle vorliegenden Indizien und Beweise, denen fortgesetzt nicht nachgegangen wird, nimmt man all die Spuren, die fortgesetzt vernichtet werden, dann darf man sich die Arbeit der SOKO, die die Verbrechen aufklären soll, so vorstellen: Ein Drittel ist damit beschäftigt, noch ein paar Helfer und Unterstützer der ›NSU‹ ausfindig zu machen bzw. festzunehmen. Zwei Drittel der SOKO dürfte damit beschäftigt sein, die Spuren, die es zwischen der ›NSU‹ und den Verfolgungsorganen gibt, zu vernichten bzw. zu verwischen.

Die Bundesanwaltschaft verfolgt vieles – nur nicht die politisch verantwortlichen Innenminister in Thüringen

Und was ist mit der Strafverfolgung ohne Ansehen der Person? Zurzeit sind sich fast alle Medien einig, dass der Bundespräsident Christian Wulff aufgrund verschiedener Vorteilsnahmen von seinem Amt zurücktreten solle, schließlich schade er damit dem Amt und der Bundesrepublik Deutschland. Und nachdem die Staatsanwaltschaft auch einen Anfangsverdacht bejaht hat, die Aufhebung seiner Immunität im Raum stand, trat der Bundespräsident zurück. Warum erwarten, fordern die Medien nicht Ähnliches für die Innenminister in Thüringen? Warum wird bis heute nicht wegen Strafvereitelung im Amt ermittelt? Warum erfüllt das Verhalten dieser Innenminister nicht den Anfangsverdacht der Unterstützung einer terroristischen Vereinigung nach § 129a?

Selbstverständlich wird man nur den dümmsten Innenministern nachweisen können, dass sie persönlich und aktenkundig vermerkt Anweisungen gegeben haben, eine mögliche Festnahme von NSU-Mitgliedern zu verhindern. Unisono werden dafür – im schlechtesten Fall – Versäumnisse in ihrer Behörde verantwortlich gemacht. Dass Innenminister justiziable Beweise bei rechtwidrigen und verfassungswidrigen Handlungen hinterlassen, ist weder üblich noch nötig. Darum geht es gar nicht. Niemand muss einem Minister persönlich nachweisen, dass er in kriminelle Handlungen verstrickt ist. Denn die Rolle und Bedeutung eines Ministers besteht vor allem darin, dass er als oberster Dienstherr einer Behörde für das politisch haftet, was unter seiner Führung geschieht bzw. nicht geschieht. Unter dem Titel ›Die Unverantwortlichen‹ hat Christian Bommarius von der Frankfurter Rundschau einen interessanten Vergleich ausgeführt: »Wer hatte Schuld am blutigen Fiasko von Bad Kleinen? Wer hatte Schuld, dass die geplante Festnahme zweier RAF-Terroristen am 27. Juni 1993 im Bahnhof der mecklenburgischen Ortschaft mit zwei Toten endete? Wer hatte Schuld, dass das Vorgehen der 38 Beamten des Mobilen Einsatzkommandos des Bundeskriminalamts, der 37 Beamten der Grenzschutz- Sondereinheit GSG 9 und 22 weiterer Kollegen von Anfang an von Chaos und Pannen bestimmt war?

Wer auch immer die Schuld dafür zu tragen hatte, einer war und ist es nicht – der damalige Bundesinnenminister Rudolf Seiters (CDU). Er trat eine Woche nach dem Debakel von Bad Kleinen zurück, nicht weil er Schuld auf sich geladen hatte, sondern weil er als Bundesinnenminister die Verantwortung für das Verhalten der ihm unterstellten Beamten trug.« (FR vom 14.2.2012) Wenn im Kampf gegen ›links‹ nicht alles nach Plan läuft, rollen Köpfe. Dabei spielt nicht einmal eine Rolle, ob es dafür eine juristische oder moralische Schuld gibt. Wenn im Kampf gegen ›rechts‹ über zehn Jahre gar nichts passiert, dann wird von Pannen, Informationsdefiziten und sonstigem Unbill geredet, für die es weder im Einzelfall, noch in Serie einen politisch Verantwortlichen gibt.

Wolf Wetzel
März 2012